Troposphere
verfroren und müde, sondern komme mir völlig ausgehöhlt vor, als ob ich ausschließlich aus Haut bestünde. Der Zug beschleunigt wieder, und ich muss einfach aus dem Fenster schauen. Aus dem Fenster zu schauen kommt mir ein bisschen so vor, wie im Internet nachzusehen, ob die Symptome, die man hat, auf eine unheilbare Krankheit hindeuten. Man weiß, sie tun es, und man weiß, man sollte nicht nachsehen, aber man tut es trotzdem. Durchs Fenster ist nur ein großes Feld zu sehen. Aber es ist kein grünes, üppiges Feld, es ist hauptsächlich Matsch. Und auf dem Matsch stehen brennende Häuser. Ich sollte mich eigentlich genauso fühlen wie bei den Fernsehnachrichten – dieses surreale Gefühl, dass nichts von dem, was man in zwei Dimensionen auf einem Bildschirm sieht, in Wirklichkeit passieren kann –, aber es fühlt sich nicht an wie Fernsehen. Die Häuser, die da draußen brennen, sind nicht irgendwelche anonymen alten Häuser aus den Nachrichten, es sind all die Häuser, in denen ich je gewohnt habe. Und ich bin drinnen und kann nicht raus; meine Eltern sind drinnen und können nicht raus. Ich weiß, dass meine Schwester schon tot ist. Aber das ist noch nicht alles. Das ist Angst ohne Hoffnung: Dies ist das Bild, wie ich in dem dicken Schlafanzug, den mir meine Mutter zu einer Zeit gekauft hat, als wir Weihnachten noch zusammen verbrachten, in meinem kalten Schlafzimmer in Kent im Bett liege. Auf dem Bild schlafe ich nicht nur fest; ich bin schon bewusstlos vom Rauch, und während ich zusehe, hat ein Bein meiner Schlafanzughose Feuer gefangen, und die Haut an meinem Knöchel beginnt zu schmelzen. Ich werde nie mehr aufwachen. Ich werde einfach wegschmelzen und nicht mal was davon mitkriegen.
Nach den Feuern kann ich nur noch Fluten sehen, Wasser, das an denselben Häusern – meinen Häusern – immer höher steigt, bis sie vollkommen unter Wasser stehen; bis sogar die Leute auf den Dächern und die, die sich auf den Dachböden verschanzt haben, tot sind. Meine ganze Familie, alle, die ich je gekannt habe. In gewisser Weise ist mir meine Familie ziemlich gleichgültig – wann habe ich sie denn zum letzten Mal gesehen? Aber jetzt bin ich bei ihnen, während wir auf Hilfe warten, die nicht kommt, während das Wasser unaufhörlich steigt und uns alle umflutet. Außer dem Wasser gibt es nichts, es ist schwarz und kalt, und es stinkt nach Tod. Und ich bin als Erste an der Reihe, ich versuche nicht mehr, den Atem anzuhalten, und atme tatsächlich das schwarze Wasser ein. Das war's. Schwärze. Mein nutzloser Körper sinkt hinab, wo früher die Straße war. Und in diesem Zug der Angst schwitze ich, und mein Herz schlägt so schnell, dass es ein einziger langer Herzschlag zu sein scheint oder vielleicht gar keiner.
Das Schlimmste an den Bildern draußen ist, dass es außer ihnen nichts gibt. Und es ist nicht bloß so, dass ich jenseits der Häuser und des Matsches nichts sehen kann: Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass es dort draußen jenseits dessen, was ich sehen kann, nichts gibt. Es gibt hier kein Ich, und es gibt keinen Zug. Ich werde in all diesen Häusern sterben, und es gibt keinen Ort, wohin ich flüchten könnte. Ich habe nicht das Gefühl, dass dies etwa »in naher Zukunft« eintreten oder im Fernsehen kommen oder jemand anderem widerfahren wird. So muss es sich anfühlen, wenn du die Tür aufmachst, und ein Mann mit toten Augen und einer Axt steht vor dir. So muss es sein, wenn du ihn nicht abwehren konntest (wie auch?) und dann gefesselt bist und weißt, du wirst gleich sterben. Du siehst nicht zu, wie dies einer Figur in einem Roman geschieht, du erlebst es selber in Wirklichkeit: Ich bin es, das ist mein Ende. Oder schlimmer noch, du bist wie eine Romanfigur, aber keine besonders wichtige. Du bist nur eines der Opfer am Wegesrand.
Der Zug bewegt sich ruckartig weiter. Die Seitenstraßen, durch die ich nach Einbruch der Dunkelheit normalerweise nie gehen würde, sind jetzt alle da, eine Welt der Sackgassen mit Vergewaltigern, die die schmalen dunklen Passagen durchstreifen wie die Gespenster in Pac-Man. Ich werde tausendmal von Leuten erstochen, die nicht wissen, wie ich heiße oder was für Bücher ich gern lese oder dass ich mir eine Katze zulegen würde, wenn mein Leben nicht so ein Chaos wäre. Ich sehe mich verblutend daliegen, wie ein Stück Vieh im Schlachthof, während Teile meines Körpers verstreut herumliegen, abgehackt und weggeworfen. Ich bete um Bewusstlosigkeit, aber sie kommt
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