Troposphere
Mitbewohner hat mal gesagt, er würde nicht gern mit mir auf einer einsamen Insel festsitzen, aber er hat nicht gesagt, warum.
»Hi, Max«, sage ich. Und dann: »Mannomann.«
»Du weißt vermutlich nichts von dem Tunnel, stimmt's?«, fragt er. Ich schüttele den Kopf. »Es gibt einen Eisenbahntunnel, der hier drunter durchgeht«, sagt er und richtet den Blick zu Boden. Er saugt an seiner Selbstgedrehten, doch da scheint sich nichts zu tun, also nimmt er sie aus dem Mund und benutzt sie, um auf bestimmte Stellen des Universitätsgeländes zu zeigen. »Er verläuft unter dem Russell dort vorn und dem Newton dort drüben. Er verbindet – oder verband früher – die Stadt mit der Küste. Ist seit ungefähr hundert Jahren nicht mehr benutzt worden. Das ist das zweite Mal, dass er einstürzt und das Newton mitreißt. Nach dem letzten Mal hätten sie ihn mit Beton verfüllen sollen«, fügt er hinzu.
Ich schaue dorthin, wo Max gerade hingezeigt hat, und beginne im Kopf Linien zwischen dem Newton und dem Russell Building zu ziehen, wobei ich mir den Tunnel jeweils unter diesen Linien vorstelle. Wie man es auch anstellt, das Gebäude mit den Fachbereichen Anglistik und Amerikanistik liegt ebenfalls auf der Linie.
»Wenigstens ist niemand zu Schaden gekommen«, sagt er. »Heute Morgen hat jemand von der Instandhaltung einen Riss in der Außenwand bemerkt und alle evakuieren lassen.«
Lisa schaudert. »Ich fasse einfach nicht, dass das hier passiert«, sagt sie und blickt zum Newton Building hinüber. Der graue Himmel ist dunkler und der Regen heftiger geworden. Das Newton Building sieht ohne Licht seltsam aus, wie eine ausgedrückte Zigarette.
»Ich auch nicht«, sage ich.
Die nächsten drei oder vier Minuten stehen wir alle da und starren schweigend das Gebäude an. Dann kommt ein Mann mit einem Megaphon und fordert uns auf, sofort nach Hause zu gehen, ohne noch einmal unsere Büros aufzusuchen. Mir ist zum Heulen. Zerborstener Beton hat etwas unglaublich Trauriges an sich.
Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, doch für mich ist es gar nicht so leicht, einfach nach Hause zu gehen. Ich habe nur einen Satz Schlüssel zu meiner Wohnung, und der ist in meinem Büro, genau wie mein Mantel, mein Schal, meine Handschuhe, meine Mütze und mein Rucksack.
Vor dem Haupteingang steht ein Sicherheitsbeamter, der die Leute daran hindert hineinzugehen, deshalb gehe ich die Treppe hinunter und durch den Seiteneingang. Mein Name steht nicht an der Bürotür. Dort steht nur der Name des offiziellen Inhabers: meines Doktorvaters, Professor Saul Burlem. Ich bin Burlem zweimal begegnet, bevor ich hierherkam, einmal auf einer Konferenz in Greenwich und einmal bei meinem Vorstellungsgespräch. Er ist kaum eine Woche nach meiner Ankunft verschwunden. Ich weiß noch, wie ich an einem Donnerstagvormittag ins Büro gekommen bin und bemerkt habe, dass etwas anders war als sonst. Zunächst mal waren die Jalousien heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen: Burlem ließ abends zwar immer die Jalousien herunter, aber keiner von uns beiden rührte je die schrecklichen dünnen grauen Vorhänge an. Außerdem roch das Zimmer nach Zigarettenrauch. Ich erwartete Burlem an diesem Morgen gegen zehn Uhr, aber er ließ sich nicht blicken. Am Montag darauf fragte ich mehrere Leute, wo er sei, aber niemand wusste etwas. Irgendwann kümmerte sich dann jemand darum, dass seine Kurse weitergeführt wurden. Ich weiß nicht, ob innerhalb des Instituts darüber getratscht wird – niemand tratscht mit mir –, aber alle scheinen davon auszugehen, dass ich meine Forschungen einfach weiterbetreibe und dass Burlems Abwesenheit für mich kein großes Problem darstellt. Dabei ist er der Grund dafür, dass ich überhaupt hierhergekommen bin. Er ist der einzige Mensch auf der Welt, der ernsthaft über eins meiner Hauptthemen geforscht hat: Thomas E. Lumas, einen Schriftsteller aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ohne Burlem weiß ich nicht recht, was ich hier eigentlich soll. Und ich fühle im Zusammenhang mit seinem Verschwinden tatsächlich irgendwas; nicht direkt Verlust, aber irgendwas.
Mein Wagen steht auf dem Parkplatz neben dem Newton Building. Als ich dort ankomme, bin ich nicht wirklich überrascht, dass mehrere Männer mit Schutzhelmen die Leute anweisen, ihre Autos zu vergessen und zu Fuß nach Hause zu gehen oder den Bus zu nehmen. Ich versuche es trotzdem – ich sage, ich würde nur allzu gern das Risiko eingehen, dass das Newton Building sich
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