Troposphere
dass wir über das, was wir gerade erlebt haben, kein Wort verlieren müssen. Ich habe das Gefühl, als sei eine Last von mir genommen, weil ich Apollo Smintheus nichts mehr schuldig bin. Aber das Gewicht dessen, was ich über Leiden weiß, lässt jene andere Last wie ein Staubkorn erscheinen, das ich gerade von mir abgebürstet habe. Und ich fühle mich noch immer verfolgt: natürlich nicht von Apollo Smintheus. Irgendwas ist an seine Stelle getreten, aber ich weiß nicht, was.
Die Troposphäre sieht aus wie sonst, abgesehen davon, dass wir Tausende und Abertausende Meilen vom Anfangspunkt der Reise entfernt scheinen, zumindest nach der Landkarte in der Konsole. Die Karte sieht jetzt anders aus, und ich erkenne, woran es liegt: An verschiedenen Stellen sind kleine gelbe Kreise, und sie stehen offenbar für Bahnhöfe. Die könnte ich aufsuchen, um hier wieder rauszukommen.
Wir müssen nur bis in die frühen neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, um Lumas aufzuspüren, und wir sind bereits im Jahr 1900. Wir fahren von Massachusetts nach New York als Passagiere eines Handelsreisenden, und dann finden wir einen Zeitungsredakteur, dessen Großvater noch in England lebt. Sobald wir in seinem Kopf sind, müssen wir nicht mehr allzu viele Sprünge machen, um nach London im Jahr 1894 zu kommen, ein Jahr nach der Veröffentlichung von »The End of Mister Y«. Die nächsten Sprünge machen wir ziemlich vorsichtig. Zunächst legen wir den größten Teil der Zeit zurück, und dann kümmern wir uns um den Rest der Entfernung, indem wir uns durch London fortbewegen, bis wir vor Lumas' Verlagshaus stehen. Der Mensch, in dessen Kopf wir uns befinden, ist ein gewisser Mr. Henry Bellington, zweiundzwanzig Jahre alt. Er hat ein dickes Manuskript unter dem Arm.
Wir haben beschlossen, nicht zu reden, wenn wir im Kopf von Menschen sind, also muss ich mir selber einen Reim auf die Dinge in meiner Umgebung machen. Als Erstes fällt mir am viktorianischen London auf, wie wunderbar ruhig es ist. Mr. Bellington ist nicht meiner Ansicht. Er findet es mit all den Bettlern und den Dieben und dem ganzen dicken schwarzen Rauch fürchterlich bedrückend. Aber andererseits kennt er auch keine Welt mit Flugverkehr, Verbrennungsmotoren, Mobiltelefonen und dem ständigen tiefen Brummen elektrischen Stroms im Hintergrund.
Bellington betritt das Verlagsgebäude.
Und dann sind es nur noch zwei Sprünge bis in den Kopf von Lumas' Lektor.
Ich brauche nur seine Adresse. Habe ich sie mir eingeprägt? Ja, habe ich.
Und dann geht es über eine Taube auf einem Fenstersims aus dem Gebäude, und dann in einen Einspännerwagen mit einem jungen Buchhalter, den ich wieder verlasse, sobald wir in der Stadtmitte sind. Und dann springe ich einfach von Mensch zu Mensch, bis ich vor Lumas' Haustür stehe. Aber die Menschen, in deren Köpfen ich bin, wollen nicht stehen bleiben, und nachdem ich ein paarmal nur deshalb gesprungen bin, um an Ort und Stelle zu bleiben, wähle ich Beenden auf der Konsole und lande mit Adam wieder in der Troposphäre.
»Das war nicht schlecht«, sagt er.
Ich schaue mich um. Mein Bewusstsein hat mit diesem Teil der Troposphäre etwas Merkwürdiges – und ziemlich Geschmackloses – gemacht. Obwohl es immer noch den Eindruck einer futuristischen Stadt erweckt, ähnelt dieses Viertel der lieblosen Dekoration für einen Hollywoodfilm, der in London zu Beginn der 1890er Jahre spielt. Die Lautstärke von allem scheint aufgedreht. Überall stehen verlassene Einspännerwagen herum, genau wie in Burlems Version der Troposphäre, aber die hier scheinen hastig gezeichnet zu sein, als wollte ich sie hier haben, wüsste aber eigentlich nicht, wie sie aussehen. Überall ist Dickens'scher Nebel, obwohl ich Dickens nie richtig gelesen habe, und deswegen scheint er nur halbherzig über allem zu hängen, als könnte er sich nicht recht zwischen tatsächlichem Nebel, Kohlenstaub und dem Rauch aus allen Londoner Schornsteinen entscheiden. Außerdem lehnt ein Viertelpenny an einem schmiedeeisernen Geländer.
Die Straße hat Kopfsteinpflaster, und alle Häuser sind aus roten Ziegelsteinen. Es gibt hier eine Menge Geschäfte, und alle haben kunstvoll gestaltete Fassaden. Auf einer Seite der Straße kommen sie mir vertrauter vor als auf der anderen. Ein Gebäude dort wird als Musikalische Bank bezeichnet, dann kommt neben verschiedenen anderen Dingen ein vegetarisches Restaurant. Die Musikalische Bank sollte allerdings nicht in London stehen, sie
Weitere Kostenlose Bücher