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... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

Titel: ... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor E. Frankl
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wir; ja, wie glücklich, trotz allem! Während wir unsere Körper aneinanderpressen, um jeden unnötigen Wärmeverlust zu vermeiden, während wir zu apathisch und zu träge sind, um buchstäblich nur ein Glied zu rühren, sofern es nicht unbedingt nötig ist, hören wir von draußen, vom Appellplatz, schrille Pfiffe und Kommandorufe hereintönen, von draußen, wo gerade die ins Lager zurückgekehrte Nachtschicht aufmarschiert ist. Da wird die Tür aufgerissen, der Schneesturm braust ins Innere der Baracke, und eine verschneite Gestalt, ein erschöpfter Kamerad schwankt herein, um sich für wenige Minuten auf einem der Bretter niederzulassen. Aber der Blockälteste wirft ihn hinaus, weil es während der Zählappelle strengstens verboten ist, einen Nichtzugehörigen in die Schonungsbaracke einzulassen! Wie leid tut mir da dieser Kamerad! Wie froh bin ich in diesem Moment, nicht in seiner Haut zu stecken, sondern »in Schonung« zu sein und in der Schonungsbaracke weiter dahindösen zu können. Welche Lebensrettung bedeutete es doch, in der Ambulanz des Krankenreviers zwei Tage Schonung zu bekommen und dann noch weitere zwei Tage angestückelt zu erhalten.

Ins Fleckfieberlager?
     
    Aber ich hatte damals noch viel mehr Glück. Als ich nach dem vierten Tag in die Nachtschicht eingeteilt werden sollte – sie hätte meinen sicheren Tod bedeutet -, stürzte plötzlich der Oberarzt in die Baracke und forderte mich auf, mich freiwillig zum ärztlichen Dienst in ein anderes, in ein Fleckfieberlager zu melden. Entgegen den dringenden Ratschlägen meiner Freunde und im Gegensatz zum berechnenden Verhalten fast aller andern unbeschäftigten Kollegen entschloß ich mich sofort zur Meldung. Ich wußte, daß ich auf einem Arbeitskommando in kürzester Zeit zugrunde gehen mußte; galt es schon zu sterben, dann sollte mein Sterben Sinn haben. Als Arzt meinen kranken Kameraden halbwegs helfen zu können, schien mir zweifellos sinnvoller zu sein als dieses Vegetieren und schließliche Krepieren als höchst unproduktiver Erdarbeiter, der ich damals war. Das war für mich eine einfache Rechnung und bei weitem kein heroisches Opfer. Der Sanitätsunteroffizier aber hatte nun insgeheim angeordnet, daß die beiden Ärzte, die sich freiwillig ins Fleckfieberlager gemeldet hatten, bis zu ihrem Abtransport in Schonung bleiben dürften. Sahen wir doch so »krepiert« aus, daß er andernfalls bis dahin nicht ein paar Ärzte mehr zur Verfügung, sondern ein paar Leichen mehr im Lager gehabt hätte. Das alles zauberte die Erinnerung vor mein geistiges Auge, als man mir jenes Bild aus einem Konzentrationslager vorhielt. Und das alles begann ich zu erzählen, bis man mich verstand, auch als ich meinte, ich fände das, was auf diesem Bild dargestellt war, noch lange nicht schrecklich, ja ich könnte mir sehr wohl vorstellen, daß diese Leute da sich gar nicht so unglücklich fühlten.
    Wir sprachen eingangs von der großen Entwertung, der – mit den wenigen angeführten Ausnahmen – alles zum Opfer fällt, was nicht unmittelbar mit der Lebenserhaltung des Menschen selbst und der ihm innerlich am nächsten Stehenden zusammenhängt. Diese Entwertung macht jedoch vor dem Menschen selbst, vor der eigenen Person nicht halt. Auch sie wird einbezogen in einen geistigen Wirbel, mit dem alle Werte in einen Abgrund der Fragwürdigkeit zu stürzen scheinen. Unter der Suggestion einer Umwelt, die vom Wert menschlichen Lebens und der Würde menschlicher Personen schon längst nichts mehr weiß, die vielmehr den Menschen ausschließlich zum willenlosen Objekt einer Ausrottungspolitik gemacht hat, vor deren Endziel sie nur noch eine Ausnützungspolitik der letzten Reste physischer Arbeitsfähigkeit gesetzt hat -, unter dieser allgemeinen Suggestion muß schließlich auch das eigene Ich eine Entwertung erfahren. Der Mensch im Konzentrationslager, sofern er sich nicht in einem letzten Aufschwung des Selbstwertgefühls dagegen stemmt, verliert das Gefühl, überhaupt noch Subjekt zu sein, geschweige denn ein geistiges Wesen mit innerer Freiheit und persönlichem Wert. Er erlebt sich selbst nur mehr als kleinsten Teil einer großen Masse, sein Dasein fällt herab auf das Niveau eines Herdendaseins. Ohne recht zu denken oder zu wollen, werden da Menschen bald dahin bald dorthin getrieben, zusammen- oder auseinandergetrieben, wie eine Herde von Schafen. Rechts und links von dir, vor und hinter dir lauert eine kleine, aber bewaffnete, raffinierte und sadistische Meute,

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