... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
die dich mit Brüllen, Tritten mit dem Stiefelabsatz oder Hieben mit dem Gewehrkolben stets antreibt, vorwärtstreibt oder zurücktreibt. Wie die Schafe der Herde kamen wir uns da vor, die nur eines kennen, denken und wollen: den Attacken der Hunde ausweichen und, wenn einmal in Ruhe gelassen, ein wenig fressen dürfen. Und so wie die Schafe furchtsam in die Mitte des Herdenhaufens drängen, genau so trachtete ein jeder von uns, in die Mitte der Fünferreihen und womöglich auch in die Mitte der ganzen Kolonne zu stehen zu kommen, um so am ehesten den Schlägen der seitlich von der Kolonne, an deren Spitze und hinter deren Ende marschierenden Posten zu entgehen. Überdies aber hatte diese mittlere Aufstellung noch den nicht zu gering zu erachtenden Vorteil des Windschutzes.
So ist es nicht nur Suggestion, sondern auch ein Selbstrettungsversuch in mehrfacher Beziehung, wenn der Mensch im Konzentrationslager buchstäblich versucht, in der Masse »aufzugehen«: »Aufgehen« zu fünft, in Fünferreihen, dies macht der Häftling alsbald bereits mechanisch; bewußt jedoch strebt er danach, »in der Masse« unterzutauchen, um einem der obersten Gebote des Selbstschutzes im Lager zu entsprechen: ja nur nicht aufzufallen, ja nur nicht durch irgendeine, und sei es die geringfügigste Auffälligkeit die Aufmerksamkeit der SS auf sich zu lenken!
Sehnsucht nach Einsamkeit
Natürlich gibt es Zeiten, in denen es nötig und in denen es auch möglich ist, sich aus der Masse herauszuhalten. Bekannt ist es, wie das ununterbrochene Zusammensein mit einer Menge von Leidensgenossen, das Zusammensein mit ihnen zu jeder Zeit und bei allen banalen Verrichtungen des Alltags, oft einen unwiderstehlichen Drang danach erzeugt, aus dieser ständigen Zwangsgemeinschaft wenigstens auf kurze Zeit zu echappieren. Es ist eine tiefe Sehnsucht nach dem Alleinsein mit sich selbst und mit den eigenen Gedanken, die Sehnsucht nach einem Stück Einsamkeit, die einen da packt.
Als ich bereits in ein anderes bayrisches Lager gebracht worden war, in ein sogenanntes Schonungslager, in dem ich dann, während einer großen Fleckfieberepidemie, endlich als Arzt arbeiten durfte, da hatte ich zeitweise dieses Glück, wenigstens für Minuten, mich in die so ersehnte Einsamkeit zurückziehen zu können. Hinter der Fleckfieberbaracke, einer Erdhütte, in der ungefähr fünfzig hochfiebernde und delirante Kameraden zusammengepfercht lagen, gab es einen kleinen, stillen Platz im Winkel der doppelten Stacheldrahtumzäunung des Lagers. Dort hatte man mit ein paar Pflökken und Baumästen eine Art Zelt improvisiert, in das man das halbe Dutzend Leichen warf, die täglich – in unserem kleinen Lager – »anfielen«. Dort gab es auch einen Schacht mit unterirdischer Wasserleitung, bedeckt mit einer hölzernen Platte. Auf ihr ließ ich mich nieder, wann immer ich, für eine Weile, in der Baracke als Arzt entbehrlich war. Dort hockte ich und blickte – durch die obligate Vignette des Stacheldrahts – hinaus auf die weiten grünenden und blumigen Fluren und fernen blauenden Hügel der bayrischen Landschaft. Dort saß ich und träumte die Träume meiner Sehnsucht und schickte meine Gedanken fernhin nach Norden und Nordosten, wo ich geliebte Menschen vermutete – aber jetzt nur Wolken mit unheimlich bizarren Formen wahrnahm. Die verlausten Kadaver, die dort neben meinem Platz lagen, konnten mich nicht stören. Aus meinen Träumen rissen mich nur die Schritte des Wachtpostens, der von Zeit zu Zeit den Stacheldraht entlang patrouillierte, oder vielleicht ein Ruf aus der Baracke, der mich ins Krankenrevier beorderte, um frisch ins Lager gelangte Medikamente für meine Quarantänestation zu fassen – fünf, oder vielleicht einmal auch zehn Tabletten Aspirinersatz oder Cardiazol – für mehrere Tage und für fünfzig Patienten. Dann ging ich sie holen und machte sodann »Visite«: von Kameraden zu Kameraden, ihnen den Puls fühlend, den schwersten Fällen eine halbe Tablette eines Medikaments reichend, den allerschwersten – gar kein Medikament, da es für sie vergeblich gewesen und den andern Fällen, die vielleicht noch zu retten waren, entzogen worden wäre; den leichteren Fällen aber konnte ich nichts geben, außer vielleicht einem guten Wort. So schleppte ich mich von einem Kameraden zum andern, selber bis zum äußersten geschwächt und körperlich heruntergekommen, da selber erst unmittelbar nach einem schweren Fleckfieber. Und dann zog ich mich wieder für eine
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