... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Weile in meine Einsamkeit zurück und ließ mich wieder auf jenem Holzdeckel des unterirdischen Hydranten nieder – der übrigens drei Kameraden einmal das Leben rettete: Kurz vor der Befreiung wurden Massentransporte (angeblich nach Dachau) abgefertigt, denen sich drei Kameraden wohlweislich zu entziehen trachteten. Sie krochen nun in diesen Hydrantenschacht hinab und verbargen sich dort vor der Lagerwache, die das ganze Terrain absuchte. Ich selber aber saß in diesen erregten Minuten äußerlich ruhig auf dem Deckel des Schachtes und ignorierte fleißig die mißtrauisch umherspähenden Posten, die zwar anscheinend im ersten Moment Verdacht schöpften und den Deckel aufheben wollten, sich aber dann doch besannen und an mir vorübergingen, der ich mit treuherzigem Blick und harmloser Miene dasaß und mit erfolgreich gespielter Unbefangenheit mit Kieselsteinen auf das Stacheldrahtgitter zielte. Nur eine Sekunde stutzte ein Posten, der mich so sah; gleich aber wandte er sich von diesem seinen Argwohn entwaffnenden Anblick ab – und hastete weiter. Den drei Kameraden in der Tiefe jedoch konnte ich alsbald melden, die Hauptgefahr sei nun schon vorbei.
Das Schicksal spielt Ball
Von der radikalen Wertlosigkeit des einzelnen Menschenlebens, zu der es im Lagerleben herabsinkt, kann sich wohl überhaupt nur derjenige einen Begriff machen, der die dortigen Zustände selber miterlebt hat. Dem dadurch gleichzeitig Abgestumpften konnte aber diese Mißachtung der Existenz menschlicher Individuen am ehesten noch dann zu Bewußtsein kommen, wenn etwa im Lager ein Krankentransport abgefertigt wurde. Auf zweirädrigen Karren, die von den Häftlingen viele Kilometer weit durch den Schneesturm gezogen werden mußten, bis man ins andere Lager kam, auf diesen Karren wurden die ausgezehrten Leiber der zum Transport Bestimmten einfach nur so hinaufgeschmissen. Gab es einen Toten, so mußte er mit dazu: die Liste mußte stimmen! Die Liste ist das Wichtigste, der Mensch nur so weit wichtig, als er eine Häftlingsnummer hat, buchstäblich nur mehr eine Nummer darstellt. Tot oder lebendig – das gilt hier nicht mehr; das »Leben« der »Nummer« ist irrelevant. Was hinter dieser Nummer, was hinter diesem Leben steht, ist noch weniger erheblich: das Schicksal – die Geschichte – der Name eines Menschen. In dem Krankentransport z.B., mit dem ich als Arzt von einem bayrischen Lager ins andere abging, gab es einen jungen Kameraden, der seinen Bruder hätte zurücklassen müssen, weil der nicht auf die Liste gekommen war. Er bettelte nun so lange beim Lagerältesten, bis sich dieser entschloß, einen auf der Liste Befindlichen, der im letzten Moment gerne noch ausgesprungen wäre, gegen den anhänglichen Bruder auszutauschen. Die Liste aber mußte stimmen! Nichts leichter als das: der anhängliche Bruder übernahm einfach Häftlingsnummer, Vor-und Zunamen des an seiner Stelle zurückbleibenden Kameraden, und umgekehrt. Denn, wie schon erwähnt, Dokumente besaßen wir alle im Lager schon längst nicht mehr, und jeder war glücklich, wenn er nichts weiter sein eigen nennen konnte, als diesen seinen trotz allem noch atmenden Organismus. Was drum und dran war, wörtlich genommen, was über der fahlen Haut dieser halbskelettierten Menschen an Lumpen und Fetzenwerk hing, das war schon nur mehr Gegenstand des Interesses der Zurückbleibenden: mit unverhüllter Neugier, ob ihre Schuhe oder Mäntel nicht doch noch etwas besser seien als die eigenen, wurden die abgehenden »Muselmänner« fachkundig gemustert. Ihr Schicksal war ja besiegelt; denen aber, die im Lager zurückbleiben durften, den noch halbwegs Arbeitsfähigen, mußte alles recht sein, was dazu taugte, ihre Chance des Überlebens zu vergrößern. Sentimental waren sie nicht...
Der Verlust des Gefühls, überhaupt noch menschliches Subjekt zu sein, wird dadurch unterstützt, daß der Mensch im Konzentrationslager sich nicht nur vollends als Objekt etwa der Willkür der Wache erlebt, sondern auch so recht als Objekt des Schicksals, als dessen Spielball. Ich hatte immer gemeint und gesagt, der Mensch wisse gewöhnlich erst fünf oder zehn Jahre später, wozu irgend etwas in seinem Leben gut war. Das Konzentrationslager belehrte mich eines besseren: wie oft erfuhren wir es nicht schon fünf oder zehn Minuten später, wozu etwas gut war! Schon in Auschwitz legte ich mir ein Prinzip zurecht, dessen »Richtigkeit« sich bald erweisen sollte und das späterhin auch von den meisten meiner
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