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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Wasserspritzer flogen im Mondlicht umher wie Millionen von Diamanten, und sie griff nach dem nächsten Vorsprung des gezackten Eisrandes. Dort hing sie für einen Augenblick, zitternd und keuchend in der frostigen Nachtluft. Sie hatte schon kein Gefühl mehr in den Beinen, und ihre Hände waren so taub, daß sie sich kaum am Eis festhalten konnte.
    Sie versuchte, sich hochzuziehen, und es gelang ihr, die Schultern ein paar Zentimeter aus dem Wasser zu heben, doch im nächsten Moment fiel sie schon wieder zurück. Es gab nichts, woran sie sich hätte festhalten können, nur glattes, mit Pulverschnee bedecktes Eis. Vergeblich tastete sie umher, fand aber keinen Halt.
    Wieder versuchte sie es, wieder fiel sie platschend ins Wasser zurück, tauchte mit dem Kopf unter. Sie kam wieder an die Oberfläche, prustend und keuchend, die Beine fast gelähmt.
    Sie schaffte es nicht. Sie konnte sich nicht herausziehen.
    Fünf-, sechsmal versuchte sie noch, sich auf die Eisfläche zu hieven, doch ihre durchnäßten Kleider zogen sie nach unten, und sie zitterte so heftig, daß sie sich nicht einmal mehr festhalten konnte. Eine tiefe Lethargie erfaßte sie, ließ ihre Glieder steif werden. Wie tot. Sie spürte, wie sie wieder versank, wie die Dunkelheit sie in die Tiefe zog, sie in einen tödlichen Schlaf zu locken suchte. All ihre Energie war verbraucht; nichts war mehr übrig.
    Sie sank tiefer hinab, und Erschöpfung überwältigte ihren Körper. Sie blickte nach oben, wo das Mondlicht schimmerte, und sie nahm es mit einer merkwürdigen Teilnahmslosigkeit wahr. Die Dunkelheit zog sie fester in ihre Arme; sie spürte die Kälte nicht mehr, nur noch ein mattes Gefühl der Unvermeidlichkeit.
    Noah.
    In dem schwachen Lichtkreis über ihrem Kopf glaubte sie sein Gesicht zu erkennen, so, wie er als kleines Kind ausgesehen hatte. Er rief nach ihr, streckte seine Arme sehnsüchtig nach ihr aus. Der Lichtkreis schien sich in silbrige Fragmente aufzulösen.
    Noah. Denk an Noah.
    Obwohl sie keine Kraft mehr hatte, reckte sie sich nach dieser geisterhaften Hand. Sie zerfloß wie Wasser zwischen ihren Fingern. Du bist zu weit weg. Ich kann dich nicht erreichen.
    Wieder spürte sie, wie sie hinabsank, wie sie in die trübe Tiefe gezogen wurde. Noahs Arme verschwanden in der Ferne, doch seine Stimme rief noch immer nach ihr. Sie streckte wieder die Hand nach ihm aus, und sie sah den Lichtkreis heller werden, ein silbriger Schein, zum Greifen nahe. Wenn ich es schaffe, ihn zu berühren, dachte sie, dann erreiche ich den Himmel. Dann komme ich zu meinem Schatz.
    Mit letzter Kraft strebte sie auf das Licht zu, ruderte wild mit Armen und Beinen gegen die Dunkelheit an, jeder Muskel angespannt.
    Ihr Arm durchstieß die Oberfläche, brach sie in viele kleine Wellen, und dann tauchte ihr Kopf auf, und sie nahm einen einzigen tiefen Atemzug. Sie erhaschte einen Blick auf den Mond, so schön und strahlend, daß ihre Augen schmerzten, und sie spürte, wie sie ein letztes Mal hinabsank, den Arm zum Himmel gereckt.
    Eine Hand ergriff ihren Arm. Eine wirkliche Hand, die sich mit festem Griff um ihr Handgelenk legte. Noah, dachte sie. Ich habe meinen Sohn gefunden.
    Jetzt zog die Hand sie hoch, hinaus aus den dunklen Fluten. Verwundert starrte sie in das heller strahlende Licht, und dann kam ihr Kopf an die Oberfläche und sie sah das Gesicht, das auf sie herabblickte. Nicht Noahs Gesicht, sondern das eines Mädchens. Eines Mädchens mit langen Haaren, die im Mondlicht silbrig glänzten.
    Mitchell Groome goß einen halben Kanister Benzin über Max Tutwilers Leiche aus. Nicht daß es so wichtig gewesen wäre, seine sterblichen Überreste zu vernichten. Diese Höhle war über Jahrtausende unentdeckt geblieben; so schnell würde niemand Max’ Leiche finden. Doch da er schon einmal dabei war, die Wurmkolonie zu vernichten, konnte er sich auch gleich des Toten entledigen.
    Er trug eine Maske, um sich gegen die Dämpfe zu schützen, und eine Stirnlampe, um sich in der düsteren Höhle zurechtzufinden. In aller Ruhe leerte er die drei Benzinkanister. Er hatte keinen Grund, sich zu beeilen; der versunkene Wagen der Ärztin würde nicht vor Tagesanbruch gefunden werden, und selbst wenn er früher entdeckt werden sollte, würde niemand eine Verbindung zwischen ihrem Tod und Mitchell Groome herstellen. Wenn auf irgend jemanden ein Verdacht fiele, so wäre es Max, dessen plötzliches Verschwinden diesen Verdacht nur noch erhärten würde. Groome mochte es nicht, wenn er

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