Trügerisches Spiel (German Edition)
Kurse mit ihnen.« Jocelyn mochte Gayle, und ohne das Zeugenschutzprogramm hätte sich zwischen ihnen sicher eine Freundschaft entwickelt, doch so bemühte sie sich, die Lehrerin auf Abstand zu halten. Wie einsam sie sich dadurch fühlte, merkte sie daran, dass sie sich über Gayles Besuch freute. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie Gayles Blick. »Was ist?«
Gayle zögerte. »Ich weiß, ich sollte nichts sagen, aber …«
Jocelyn ließ die Matte sinken und versuchte, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen. »Was?«
»Du kannst jederzeit mit mir reden, wenn dich etwas belastet. Ich kann dir ansehen, dass du nicht glücklich bist.« Nervös fuhr Gayle durch ihre kurzen blonden Haare. »Wahrscheinlich denkst du jetzt, dass ich mich nicht in dein Leben einmischen sollte, aber ich mache mir Sorgen um dich.«
Mit Mühe schaffte Jocelyn es, die Tränen zurückzuhalten. Sie sehnte sich danach, wieder jemandem vertrauen zu können, jemandem näherzukommen, aber sie konnte es nicht zulassen. Da sie ihre wahre Identität nicht enthüllen durfte, müsste sie ständig lügen, und das wollte sie nicht. »Danke für das Angebot. Es geht mir gut.«
»Das glaube ich zwar nicht, aber ich will dich auch nicht bedrängen. Hauptsache, du weißt, dass du dich jederzeit an mich wenden kannst.«
Jocelyn lächelte sie wackelig an. »Das ist lieb von dir. Ich werde darauf zurückkommen, wenn ich so weit bin.«
Gayle nickte ihr zu und ging zur Tür. »Ach übrigens, vorhin war ein Mann hier, der sich nach dir erkundigt hat. Sah gar nicht mal schlecht aus, irgendwie rassig. Vielleicht gefällt es dir hier besser, wenn du männliche Gesellschaft hast.« Sie zwinkerte und verließ den Raum.
Das Blut verließ so schnell ihren Kopf, dass Jocelyn schwankte und sich an der Wand abstützen musste, um nicht umzufallen. Die Furcht, die seit einem Jahr ihr ständiger Begleiter war, kroch wieder in ihr hoch und ließ sie am ganzen Körper zittern. Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war, der nach ihr gefragt hatte, aber allein die Tatsache, dass sie jemandem aufgefallen war, machte ihr Angst. Die ganze Zeit über hatte sie sich bemüht, so unauffällig wie möglich zu agieren, damit sie kein unerwünschtes Interesse weckte. Aber es schien so, als hätte das nicht funktioniert. Unruhig sah sie sich um. Es war inzwischen sicher bereits 19 Uhr und niemand anders mehr im Gebäude. Sie sollte so schnell wie möglich verschwinden und sich in dem kleinen Haus, das sie am Stadtrand gemietet hatte, einschließen.
Auch wenn man ihr versichert hatte, dass niemand je ihren neuen Namen erfahren würde und sie praktisch unauffindbar war, hatte sie genügend Filme gesehen und Bücher gelesen, in denen genau das passierte. Wahrscheinlich kam es in der Realität nicht so häufig vor, aber auch da hatte sie schon von Menschen gehört, die trotz Zeugenschutzprogramm gefunden und umgebracht worden waren. Wobei sie sich nicht vorstellen konnte, warum sie jemand töten wollte, schließlich hatte sie überhaupt nichts über die Hintermänner des Attentäters aussagen können. Sie wusste nur das, was ihr die Polizisten gesagt hatten: dass der Mafiaboss Antonio Leone der Auftraggeber gewesen sein sollte. Dem anscheinend nichts nachzuweisen war, selbst mit ihrer Aussage. Warum musste sie also darunter leiden, wenn es den Behörden nicht gelang, den Schuldigen zu verurteilen?
Jocelyn atmete tief durch. Okay, sie würde wachsam bleiben, aber nicht in Panik verfallen, nur weil ein Mann Interesse an ihr gezeigt hatte. Vielleicht war ja wirklich alles ganz harmlos, und sie regte sich völlig umsonst auf. Rasch räumte sie die letzten Matten weg und eilte zu den Umkleideräumen. Wie erwartet waren die Kursteilnehmerinnen schon weg, sie war allein. Während sie sonst die Stille genoss, kam sie ihr jetzt unheimlich vor. Jocelyn beschloss, die Dusche ausfallen zu lassen, und zog sich schnell an. In ihrer Straßenkleidung fühlte sie sich gleich sicherer, obwohl sie wusste, dass das nur eine Illusion war. Eilig verließ sie das Gebäude und atmete erleichtert auf, als sie an die frische Luft kam. Seit dem Überfall im Fahrstuhl fühlte sie sich in Gebäuden unwohl, erst recht in engen Räumen ohne Fenster. Fahrstühle konnte sie gar nicht mehr ertragen – ein weiterer Vorteil von Mitchell, hier gab es so etwas nicht.
Erschöpft stieg sie in ihren Wagen und startete den Motor. Hitze hatte sich im Auto gestaut, und Jocelyn kurbelte das Fenster herunter. Eine Klimaanlage gab
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