Trümmermörder
mit der Polizei?«
»Wie meinen Sie das?«
»Die beiden sahen nicht glücklich aus. Aber der Polizist musste nicht hart zupacken. Keine Handschellen, kein Schlagstock. Hat nicht mal herumgebrüllt.«
»Die beiden?«
»Die ältere Frau und das Mädchen. Die anderen beiden waren nicht da. Keine Ahnung, wo die sind. Sind danach jedenfalls nicht wieder aufgetaucht.«
»Ist der Verschlag nebenan wieder belegt?«
»Ja, aber ich kenne keinen Namen.«
»Das ist nicht so wichtig. Sind noch Sachen der französischen Familie da?«
Thumann blickt zu Boden. »Alles weg«, murmelt er.
»Weg? Hat der Polizist alles mitgenommen?«
»Nein. Als die Franzosen auch nach ein paar Tagen nicht wieder auftauchten, sind ein paar Jungs aus der oberen Etage gekommen und haben die Sachen verschanzt.«
»Gehen Sie zur Kripo-Zentrale am Karl-Muck-Platz und melden Sie sich bei Polizeiinspektor Müller. Der wird Ihre Aussage aufnehmen.«
»Warum fahren Sie mich nicht hin?«
»Ich habe noch etwas zu erledigen.«
»Und wenn ich nicht komme?«
»Dann werden Sie in einem Loch landen, gegen das selbst dieser Bunker ein Luxushotel ist.«
Stave rast quer durch die Stadt. Hoffentlich fahnden sie nicht schon nach dem Wagen, denkt er. Und hoffentlich ist genug Benzin im Tank. Er braucht mehr als eine Stunde, bis er das Warburg Children’s Health Home erreicht. Er bremst so spät, dass er beinahe in das Tor gekracht wäre. Stave hupt, klingelt Sturm. Der junge Mann, der ihm schon einmal öffnete, rennt herbei.
»Wir haben Kinder hier!«, ruft er empört, öffnet trotzdem das Tor.
»Und eines davon will ich sehen«, entgegnet der Oberinspektor und fährt so rasch die Auffahrt hoch, dass der Kies zu beiden Seiten wegspritzt.
Thérèse DuBois steht hinter einem Verandafenster, blickt ihn an. Ein paar Augenblicke später empfängt sie ihn an der Tür der Villa.
»Sie haben ihn!«, ruft sie.
»Ich muss mit Anouk Magaldi sprechen«, antwortet Stave.
Fünf Minuten später hält er dem Mädchen die Fotos der Toten vor das Gesicht. Bei seinen beiden vorherigen Besuchen hat er den kleinen Kindern diese Bilder nicht zu zeigen gewagt. Und die jüngeren, so hat es ihm die Betreuerin gesagt, verlassen nie das Anwesen. Wie also hätte Anouk Magaldi je diese Fotos auf den Plakaten sehen können?
Die Kleine betrachtet die Bilder. Etwas traurig, doch nicht sonderlich interessiert. Das erste. Das zweite. Staves Atem stockt. Das dritte. Dann hält sie inne, starrt das vierte Bild an, Tränen in den Augen. Es ist das Foto der jungen Frau.
»Mademoiselle Delluc«, flüstert die Kleine.
Der Oberinspektor atmet tief durch, lehnt sich im Korbstuhl zurück.
»Eine Überlebende von Oradour?«, fragt Thérèse DuBois.
»Die in Hamburg ihren Mörder traf«, murmelt Stave.
»Ihren Kollegen?«
Er nickt müde. »Mein Kollege, der unter falschem Namen zur Polizei ging. Der zuvor in der SS war. Der irgendwie als vielleicht einziger Mörder von Oradour den Krieg überlebt hat. Der irgendwie in Hamburg eine Zeugin seiner Untat traf. Er erwürgte diese Zeugin, um sich vor einer Anklage zu schützen. Und er plünderte sie bis auf die Haut aus, damit niemand sie je identifizieren wird.«
»Was ist mit den anderen drei Toten?«
Stave befragt Anouk Magaldi und bald erfährt er, dass sie die drei Verwandten von Yvonne Delluc noch nie gesehen hat. Die junge Französin stammte nicht aus Oradour, sie war nur dort, weil sie bei Freunden gewohnt hatte. Ihre Familie muss irgendwo anders gelebt haben.
»Vielleicht in Paris«, murmelt Stave, der an das Ohrgehänge denkt. Dann fällt ihm das Medaillon ein und er zeigt der Kleinen ein Foto davon. Sie lächelt ihn an, greift sich an den Hals und zieht unter dem Kragen ihres Pullovers das gleiche Medaillon heraus.
Stave starrt das Mädchen an, das winzige Schmuckstück in der Kinderhand, dann schließt er die Augen. »So dicht dran«, murmelt er. »Ich war so oft so dicht dran.« Er nimmt sich zusammen.
»Was bedeutet das? Ein Kreuz und zwei Dolche?«
Sie redet, spricht schnell. Stolz in der Stimme. Thérèse DuDois übersetzt: »Das Stadtwappen von Oradour. Fragen Sie mich nicht, was diese Symbole bedeuten. Die Überlebenden tragen es und viele ihrer Angehörigen auch. Eine Erinnerung.«
»Die Angehörigen auch«, wiederholt der Oberinspektor befriedigt. »Langsam habe ich alles, was ich brauche. Kann mir die Kleine noch irgendetwas über Yvonne Delluc sagen? Welchen Beruf hat sie? Ist sie verheiratet gewesen? Hat sie Kinder
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