Trümmermörder
sich frei«, sagt er. »Sie müssen Ihre Wohnung einrichten. Und wahrscheinlich haben Sie auch noch ein paar andere Dinge zu regeln.«
Dreißig Sekunden später ist er allein.
Stave starrt auf die schreibheftdünnen Mordakten, die er fächerförmig vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet hat. Langsam akzeptiert er, dass er nicht mehr weiterkommt. Dass er vielleicht nie mehr weiterkommen wird.
Kein neuer Toter, das ist beruhigend. Einerseits. Das bedeutet andererseits auch keine Möglichkeit, dass der Täter einen Fehler macht. Dass sich einer der Angegriffenen erfolgreich wehrt. Dass ein Zeuge ihn sieht. Dass endlich irgendjemand in Hamburg eines der Opfer identifiziert.
Jetzt, da es taut, wird es auch irgendwann wieder regnen, denkt der Oberinspektor. Die Schauer werden die Plakate der Polizei durchweichen, die Fotos werden von den Litfaßsäulen blättern, Staves eindringliche Sätze werden zerfließen. Neue Plakate darf er nicht mehr drucken, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.
Was kann er jetzt noch tun mit den vier Fällen, deren papierner Niederschlag auf seiner Schreibtischplatte ruht? Alle Fahndungen hat er gemacht, alle Zeugen befragt, alle Spuren verfolgt. Vielleicht wird der Zufall ihm helfen, irgendwann. Vielleicht wird sich der Mörder betrunken in einer Kneipe verraten, das ist mehr als einmal vorgekommen. Vielleicht wird irgendwann ein Neuankömmling Hamburg erreichen, zufällig eines der wie durch ein Wunder noch erhaltenen, vergilbten Plakate sehen und ausrufen: »Die kenne ich doch!«
Und wenn nicht? Dann kommt der Trümmermörder davon, erkennt Stave resigniert. Und ich werde mein ganzes Leben lang an ihn denken. Und immer werde ich mich fragen: Was hast du übersehen?
Selbstmitleid hilft dir auch nicht weiter, sagt er sich, räumt seufzend die Mordakten zusammen, verstaut sie sorgfältig in der Ablage, drückt sich aus dem Stuhl und schreitet zur Tür, eine andere Akte unter dem Arm: die Personalakte von Lothar Maschke, die ihm MacDonald diskret besorgt hat. Dazu noch einige andere interessante Dokumente. Er will zu Ehrlich.
Was hast du übersehen, denkt er, während er den Flur hinuntergeht. Übersehen. Die Treppe mit dem irritierenden Muster auf dem Boden. Übersehen. Die Vorhalle, der kleine bronzene Elefant. Übersehen. Die Frauenskulptur. Übersehen. Ein Mercedes vor der Zentrale. Übersehen. Der Weg zu Staatsanwalt Ehrlich. Übersehen. Die Frauenskulptur. Ehrlich. Die Frau. Frau. Ehrlich.
»Was bin ich doch für ein Idiot!«, ruft Stave plötzlich.
Dann rennt er los.
Namen
Stave hastet zurück zur Zentrale. Das verdammte Bein! Er läuft so schnell, dass er stolpert. Keuchend kommt er vor dem wuchtigen Bau an. Dort steht der Mercedes noch. Der Schlüssel steckt. Stave reißt die Tür auf, wirft sich in den Fahrersitz, braust mit röhrendem Motor davon. Er gibt einen Dreck auf die Vorschriften.
Überall Fahrradfahrer, Spaziergänger, die Sonne in sich aufsaugen. Der Oberinspektor flucht und hupt, gibt Gas, packt das Lenkrad und zwingt den alten Wagen schlingernd um die Kurven.
Seit einem Monat liegt die Lösung auf seinem Schreibtisch – aber nicht in seinen ängstlich gehüteten Mordakten, sondern in seinen Notizen. Und ich sehe das nicht! Er könnte sich ohrfeigen. Hoffentlich lebt mein Zeuge noch, denkt er im nächsten Moment. Hoffentlich gehört er nicht zu denen, die diesen Winter erfroren sind.
Yvonne Delluc.
Diesen Namen hat er sich notiert, penibel abgeschrieben. Eine der Überlebenden von Oradour. Und diesen Namen hat er schon einmal gelesen: in den Karteikarten von Maschke, jenen Karten, auf denen der Beamte von der Sitte die Bordsteinschwalben und ihre Paschas verewigt hat. Er erinnert sich nun, als sei er erst vor einer Stunde ins Büro des Kollegen geschlichen: »Yvonne Delluc, hat Familie hier.«
Eine Überlebende von Oradour. Eine Französin! Der Ohrschmuck eines Pariser Juweliers. Stave hat keine Ahnung, was sie an der Elbe verloren hatte. Kein Wunder aber, dass niemand sie identifizierte. Kein Nachbar. Kein Brite. Kein DP – denn die Displaced Persons sind gestrandete ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, die Überlebenden von Oradour normale französische Bürger mitten in der Provinz. Niemand von ihnen wurde ins Reich verschleppt.
»Hat Familie hier.« Maschkes/Herthges Notiz. Irgendwie ist die Überlebende von Oradour Maschke aufgefallen, dem einzigen entkommenen Mörder von Oradour. Der vermerkt ihren Namen und die Tatsache, dass noch
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