Trümmermörder
Staatsanwalt Ehrlich und Anna von Veckinhausen gespottet.
Die Frau hat er selbstverständlich nicht erwähnt, er schämt sich dafür vor seinem Sohn. Auch vom Trümmermörder kein Wort. Stattdessen Erinnerungen an Margarethe, Beschreibungen von Hamburg, geschönt, er will seinen Sohn nicht unnötig beunruhigen, Allgemeinplätze. Erst zum Schluss, eigentlich hat er schon mit »Dein Vater« unterschrieben, setzt er noch ein Postscriptum hinzu: »Ich liebe und vermisse Dich.«
Wann hat er das zuletzt zu seinem Sohn gesagt? Hat er das überhaupt je zuvor ausgesprochen? Er kann sich nicht daran erinnern.
Überlebende, denkt Stave wieder und betrachtet verstohlen die Passanten, die wie befreit über die Straße laufen. Wenn man in Hamburg diesen Winter überleben kann, warum dann nicht auch in Workuta? Karl ist jung und stark. Er wird überleben. Er muss.
Vier Wochen sind vergangen, seitdem ihm MacDonald den Aktendiebstahl gestanden und von der Operation Bottleneck berichtet hat. Seit er von Maschkes wahrer Identität weiß. Vier zähe Wochen ohne irgendein Ereignis.
Ist doch auch schon mal was, denkt der Oberinspektor: keine weitere Leiche. Jeder Tag ohne spektakulären Fund ist ein Tag, an dem ihm die Leine ein wenig weiter gelockert wird. Stave fühlt sich, als könne er sich wieder frei bewegen, als habe er wieder Raum zum Manövrieren. Keine Leiche – keine Schlagzeile. Keine Schlagzeile – keine Panik in der Bevölkerung. Keine Panik – keine lästigen Nachfragen mehr, nicht vom Bürgermeister, nicht von Cuddel Breuer, nicht einmal von Staatsanwalt Ehrlich. Und nun hat sich auch noch über Nacht endlich der Frühling herbeigezaubert. Jedermann wird den Trümmermörder bald vergessen.
Nur ich nicht, sagt sich Stave. Ich nicht.
In der Zentrale begrüßt ihn Erna Berg mit abgewandtem Kopf. Der Oberinspektor wird stutzig, beugt sich näher zu ihr, starrt ihr ins Gesicht. Ihr rechtes Auge ist blauschwarz zugeschwollen.
»Ihr Mann?«, fragt er.
Sie deutet auf ihren Bauch, der sich schon leicht wölbt. »Ich habe es ihm gestanden. Verheimlichen konnte ich es ja nicht länger.«
»Ich werde das regeln.« MacDonald, der aus dem Flur hinzugetreten ist, ohne dass ihn die beiden gehört hätten.
»Reden wir in meinem Büro, nicht im Vorzimmer«, erwidert Stave.
»Zu dritt«, sagt der Lieutenant und nimmt Erna Berg in den Arm.
»Was wollen Sie tun?«, fragt Stave und setzt sich hinter den Schreibtisch.
Erna Berg nimmt auf dem Besucherstuhl Platz, MacDonald bleibt hinter ihr stehen, legt ihr die Hände auf die Schultern.
»Ich werde mich scheiden lassen«, antwortet seine Sekretärin.
»Ich habe Frau Berg schon eine Wohnung besorgt«, ergänzt der Lieutenant. »Wenn diese leidige Affäre vorüber ist, werden wir heiraten.« Er lächelt.
»Aber Sie haben doch schon einen Sohn«, wirft Stave ein. Mehr muss er nicht sagen: So, wie die Dinge liegen, wird ein Richter das Kind dem Vater zusprechen, schließlich hat die Mutter Ehebruch begangen.
»Ich kümmere mich auch darum«, erwidert MacDonald und seine Stimme klingt entschlossen. »Das Kind wird bei uns groß.«
Der Oberinspektor starrt ihn lange an, bis er begreift, dass es MacDonald ernst ist – und dass der Lieutenant diesen Kampf gewinnen wird. Eigentlich hätte er Mitleid mit Erna Bergs Mann haben sollen, der im Krieg sein Bein und nach dem Krieg nun auch noch seine Familie verliert. Doch die Prügelspuren im Gesicht seiner Sekretärin erschüttern Stave. Plötzlich, ohne dass er sich dagegen wehren kann, durchflutet ihn Zuneigung zu diesem jungen britischen Offizier, der so selbstsicher, höflich und nonchalant ist und so ganz anders als er, Stave.
»Meinen Segen haben Sie«, sagt er.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie auch Pastor sind«, antwortet MacDonald.
In Erna Bergs Gesicht – in der nicht zugeschwollenen linken Hälfte – zucken feine Muskeln. Sie wird gleich weinen, denkt Stave.
»Gibt es etwas Neues zu unserem Fall?«, fragt er rasch, bevor sie alle noch sentimental werden.
»Nichts, Herr Oberinspektor«, antwortet seine Sekretärin, atmet tief durch, richtet sich auf, lächelt schüchtern, sogar ein wenig verschwörerisch. »Keine neue Leiche. Keine Anfrage von Herrn Breuer.«
»Wüsste nicht, was von beidem schlimmer gewesen wäre«, stößt Stave erleichtert hervor. Dann hebt er die Rechte, als wolle er MacDonald und Erna Berg verscheuchen, doch die Geste gerät ihm dann halb zum Segen, halb zum freundlichen Winken.
»Nehmen Sie
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