Trümmermörder
gehabt?«
Anouk Magaldi denkt nach, schüttelt den Kopf. Lächelt dann. »Elle est Juive, comme moi«, sagt sie.
»Eine Jüdin wie sie«, erklärt die Betreuerin. »Warum sollte eine Jüdin, die einem Massaker entronnen ist, ausgerechnet ins Land der Täter reisen?«
»Das«, antwortet Stave düster, »kann ich nicht beantworten. Aber nur etwas Geduld. Sie werden wahrscheinlich bald alle Details hören. Im nächsten Prozess im Curiohaus.«
Mittagszeit. Hoffentlich isst Ehrlich nicht in irgendeinem Restaurant oder gar in einem Club der Briten, denkt Stave. Er muss dem Staatsanwalt ein paar interessante Dinge mitteilen. Er hat Glück und sitzt bald darauf auf dem Besucherstuhl im Büro der Staatsanwaltschaft, gemustert von den Augen hinter der riesigen Brille.
Stave erzählt von der früheren Existenz des Lothar Maschke, der eigentlich Hans Herthge heißt und in seinem ersten Leben SS-Panzergrenadier gewesen ist. Erzählt von dem Waisenmädchen im Warburg-Kinderheim, von der Landkarte aus Maschkes Schreibtisch – wobei er nicht weiter darauf eingeht, wie er an dieses Dokument gekommen ist. Ehrlich, der sich an ihr nächtliches Treffen im Büro des Sittendezernats erinnert und dem plötzlich ein Licht aufgeht, nickt kurz. Der Oberinspektor legt die Suchdienst-Karteikarte auf Maschkes Namen neben die Landkarte. Er berichtet vom Stadtwappen Oradours auf den Medaillons, die bei zwei Toten gefunden wurden. Vom Geschmeide aus Paris. Vom analphabetischen Seemann im Eilbeker Hochbunker, der Plakate nicht ansieht, weil er sie nicht lesen kann, und der sich nicht wundert, wenn neben ihm eine Familie verschwindet. Eine französische Familie.
Ehrlich hört ihm geduldig zu. Dann putzt er die Brillengläser, lächelt zufrieden. »Was also ist Ihre Version vom Tathergang?«
»Herthge alias Maschke trifft Yvonne Delluc in Hamburg. Ich weiß nicht, ob er sofort bemerkt, dass sie eine Überlebende von Oradour ist. Oder ob sie ihn erkennt und damit konfrontiert. Wie ich auch nicht weiß, warum die junge Frau mit ihrer Familie hier in unserer Stadt ist. Und, nebenbei, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die anderen drei Opfer eigentlich zu ihr stehen.
Die beiden treffen sich. Herthge/Maschke erkennt, dass ihn die junge Französin auf das Schafott bringen könnte, also tötet er sie. Wahrscheinlich nicht sofort, direkt bei ihrer ersten Begegnung. Vielleicht läuft er vor ihr weg. Vielleicht hält er sie irgendwie hin. Vielleicht entführt er sie und nimmt sie gefangen. Er hat auf jeden Fall Zeit genug, um eine Karteikarte anzulegen, auf der er vermerkt, dass sie Familie in der Stadt hat. Das muss er irgendwie herausgefunden haben.
Er ist also vorsichtig, methodisch. Erst als er weiß, in welcher Situation sich Yvonne Delluc befindet, schlägt er gnadenlos zu und beseitigt alle Spuren. Er tötet Yvonne Delluc irgendwo in der Stadt und versteckt ihre Leiche in den Trümmern. Wie er sie da hingeschafft hat, das weiß ich noch nicht. Er lauert dem Alten auf und ermordet ihn offenbar dort, wo er ihn angetroffen hat. Vielleicht hat er erfahren, dass der Alte immer einen bestimmten Weg geht. Schließlich lockt er unter einem Vorwand die ältere Frau und das Kind aus dem Hochbunker. Wahrscheinlich sind die beiden ahnungslos, sie waren ja nicht in Oradour dabei. Als sie den Hochbunker in Eilbek verlassen haben, schlägt Herthge/Maschke wieder zu und versteckt auch diese beiden Leichen. Gut möglich, dass er diesmal mit einem Polizeiwagen bis nahe an die späteren Fundorte der Leichen gefahren ist und jeweils im passenden Moment seine Opfer zwischen Ruinen abgelegt hat.
Was hat er zu befürchten? Yvonne Delluc und ihre Familie kamen im Bunker unter, offenbar nur für wenige Wochen. Bunkermenschen kümmern sich nicht um ihre Nachbarn. Seine Chancen standen gut, dass niemand aus dem Bunker sich je an die Menschen erinnern wird. Und sonst scheint es auch keinen in Hamburg zu geben, der die Familie kennt. Die Kleine ging hier nicht zur Schule, weshalb alle Nachforschungen vergebens blieben. Keine Lebensmittelkarten, die hier für sie ausgegeben wurden. Kein Arzt, der hier je einen der vier behandelte, auch keinen im ganzen Reich – wir hätten in Frankreich suchen müssen. Aber wie hätten wir das wissen sollen?
Als wir schließlich den ersten Toten entdecken, meldet Herthge/ Maschke sich freiwillig zur Fahndungsgruppe, damit er die Sache unter Kontrolle behält. Er weiß ja, dass wir noch mehrere Opfer finden werden und dass die Sache
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