Trümmermörder
das tut?, fragt sich Stave. Oder ob er das Foto vom Medaillon in der Ablage vermodern lässt?
Der Obduktionsbericht liegt auch schon auf seinem Schreibtisch. Kaum etwas, das ihm Doktor Czrisini mitteilt, ist neu. Feine, rote Druckmarken wie am Hals sind allerdings auch am linken Handgelenk des Toten entdeckt worden. Der alte Mann war außerdem beschnitten.
Kurz darauf drängen sich auch Maschke und MacDonald ins Büro. Auf Maschkes Mantel verdampfen feine Schleier von Raureif und Schnee, sein Gesicht ist gerötet.
»Ich war gestern noch einmal am Fundort«, berichtet er. »Ein paar Beamte haben beim ersten Tageslicht die Trümmer abgesucht, aber nichts gefunden, was wir nicht schon am Abend davor entdeckt hätten.«
Stave deutet auf den Obduktionsbericht und informiert die beiden über die Druckmarken an den Gelenken und über die Beschneidung.
»Ein Jude?«, fragt MacDonald.
»Mit einem Medaillon am Hals, auf dem ein Kreuz abgebildet ist?« Stave schüttelt den Kopf. »Das passt nicht zusammen.«
»Glaube ich auch nicht«, stimmt ihm Maschke zu. »Jedes Mal, wenn wir von der Sitte eine Razzia in einem Puff veranstalten, schrecken wir auch ein paar Freier aus den Betten. Sie glauben gar nicht, wie viele Männer ich schon im Adamskostüm gesehen habe – und wie viele von denen beschnitten waren. Gute Kirchgänger darunter und wahrscheinlich auch der eine oder andere Parteigenosse.«
»Ich vermute«, fährt Stave fort, »dass der Alte die Collaustraße entlangging, langsam, er war ja behindert. Die Straße ist eng durch die Trümmerberge, deren Schutt bis über die Bürgersteige reicht. Unbeleuchtet. Der Täter lauert ihm an der Stelle auf, wo der Trampelpfad zwischen den Ruinen auf die Collaustraße trifft. Er schlägt sein Opfer dort nieder, schlingt dem Bewusstlosen den Draht ums Handgelenk und schleift ihn fort von der Straße, zwischen die Ruinen.«
»Erinnert mich an manche Spinnenarten«, sagt MacDonald.
Maschke wirft ihm einen irritierten Blick zu, Stave lässt sich nicht ablenken.
»Angriff aus dem Hinterhalt, Niederschlagen, Wegzerren – das hat nur wenige Sekunden gedauert. Zwischen den Trümmern, wo er ziemlich sicher sein kann, dass ihn niemand überrascht, hat der Täter dann mehr Zeit für sein eigentliches Vorhaben: Er erdrosselt den Alten mit der Drahtschlinge, dann fleddert er die Leiche bis auf die Haut. Den Gehstock, den Lederriemen, das Medaillon übersieht er dabei.«
»Wir haben keine Schleifspuren auf dem Trampelpfad entdeckt«, sagt Maschke.
»Jeder Kieselstein ist so festgefroren, als wäre er in Beton gegossen. Die Schneedecke ist dünn wie Zeitungspapier. Der Tote mag ein, zwei Tage unentdeckt dort gelegen haben, Dutzende Menschen können währenddessen über den Trampelpfad gegangen sein und die wenigen Spuren im Schnee verwischt haben«, entgegnet Stave.
»Und niemand von denen hätte den Toten gesehen?«, fragt MacDonald.
»Er lag in einem Krater, etwas abseits. Vom Pfad aus nicht zu sehen.«
»Wenn der Alte wirklich über die Collaustraße ging und so stark gehbehindert war, dann muss er irgendwo in der Nähe dieser Straße gewohnt haben. Die Jungs vom Labor waren fleißig und haben über Nacht schon Dutzende Abzüge der Polizeifotos gemacht. Heute Morgen haben wir die Anwohner gefragt – war ziemlich einfach, die meisten standen in der Schlange vor der örtlichen Lebensmittelkartenausgabestelle. Wahrscheinlich haben wir zwar nicht alle Leute erwischt, die dort wohnen, aber die allermeisten wohl schon. Und leider hat niemand den Alten je zuvor gesehen. Aber manchem hat das Bild des Toten vor dem Frühstück den Appetit verdorben.« Maschke seufzt.
»Aber wenn das Opfer nicht dort gewohnt hat – wieso endet er dort?«, fragt Stave.
»Weil ihn jemand zwischen den Trümmern abgelegt hat«, vermutet Maschke. »Weiß der Henker, warum er diese Druckstelle am Handgelenk hat. Vielleicht hat ihn der Mörder gefesselt und dann geschlagen. Vielleicht hat er ihn tatsächlich am Gelenk dorthin geschleift – aber erst post mortem. Denn irgendwann und irgendwo hat er ihn erwürgt, ausgezogen, dann heimlich am Draht bis zu den Ruinenbergen geschafft – und Ende.«
»Vergessen wir nicht den Stock«, mahnt MacDonald. »Vorausgesetzt, er gehört tatsächlich dem Opfer, dann ist das doch ein Indiz dafür, dass der Alte aus eigener Kraft mit seinem Gehstock bis zu jener Stelle humpelte, an der wir ihn dann gefunden haben. Denn ob Überfall auf der Collaustraße oder Mord
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