Trümmermörder
kurz auf.
»Sie, Herr Lieutenant, gehen die Vermisstenmeldungen durch. Vielleicht entdecken Sie ja irgendein Muster. Zögern Sie nicht, mir selbst unsinnig klingende Vermutungen zu nennen. Man kann nie wissen. Und Sie, Maschke, klappern die Zahnärzte ab. Und schauen Sie beim Aufräumungsamt am Heiligengeistfeld vorbei. Die Beamten dort organisieren alles, was mit Wiederaufbau und Schuttabräumung zu tun hat. Wenn jemand von Revierkämpfen unter Plünderern gehört hat, dann diese Ruinenheinis.«
Ich mag dich zwar nicht, aber du bleibst an Bord, denkt Stave. Und Maschke lächelt erleichtert.
»Gute Idee«, sagt der Mann von der Sitte.
Maschke und MacDonald verlassen das Büro. Stave nickt seiner Sekretärin zu, bevor er die Tür zum Vorraum schließt. »Ich brauche Sie gleich noch«, sagt er entschuldigend.
Er zieht sich hinter seinen Schreibtisch zurück. Papierkram. Stave legt eine neue Mordakte an, schreibt mit der Hand den Bericht über die Auffindung der Leiche vor. Dann der Text zum neuen Fahndungsplakat. Schließlich der Antrag auf Leichenöffnung.
Als Stave, die Papiere in der Hand, endlich wieder nach draußen tritt, bleibt er überrascht in der Tür stehen: MacDonald ist noch da und unterhält sich mit Erna Berg. Die beiden verstummen mitten im Satz, verlegen wie ertappte Backfische. Das kann ja heiter werden, denkt Stave. Gleichzeitig spürt er so etwas wie Eifersucht. Nur eine feine Nadel, die ihn irgendwo sticht, kein Dolch ins Herz, aber doch. Absurd.
Stave reicht seiner Sekretärin die Notizen zum Abtippen. Er greift sich Mantel und Hut, murmelt noch ein paar Belanglosigkeiten und verlässt den Raum. Sobald er die Tür hinter sich schließt, setzt das Gespräch der beiden wieder ein, als hätte jemand die angehobene Nadel eines Plattenspielers zurück in die Rille auf der Schelllackscheibe gesetzt.
Samstagabend. Früher wäre er jetzt mit Margarethe und dem Jungen nach Hause gekommen, erschöpft und lachend von einer Paddelboottour auf der Alster oder von einem langen Spaziergang an der Elbe. Sie hätten Karl zu Bett geschickt – wohl wissend, dass der, sobald die Eltern weg sind, das Licht anmacht und Kriminalromane liest. Dann wären er und Margarethe ausgegangen, vielleicht ins Restaurant oder ins Kino. Und später …
Sentimentaler Quatsch, denkt Stave, vielleicht werde ich alt. Oder ich sehe mir in letzter Zeit zu viele Tote an, das macht rührselig. Er wandert ziellos durch Rotherbaum, dann Harvestehude. Kaum vernarbte Viertel, schöne Stadtvillen, Ruhe, in manchen Straßen sieht es so aus, als hätte es nie einen Krieg gegeben – wenn man die britischen Jeeps in den Einfahrten ignoriert. Requirierte Villen.
Geschieht den Reichen ganz recht, denkt Stave plötzlich. Dann ermahnt er sich, seine Gedanken nicht von einem Unsinn zum nächsten schweifen zu lassen.
Schließlich, er muss mindestens eine halbe Stunde so gewandert sein, findet er sich auf der Hoheluftchaussee wieder, mit dem Rücken zur teilweise demolierten Hochbahnstation, an der seit Monaten keine Züge mehr halten.
Er fröstelt. Die Hoheluftchaussee ist vierspurig, doch die Gebäude zu ihren Seiten sind nicht sonderlich imposant. Er geht den Bürgersteig entlang, nun rascher, er hat ein Ziel: das »Capitol«. Ein Kino, das Margarethe und er manchmal besucht haben. Es ist unbeschädigt und hat schon wieder eröffnet. Kein Strom für die Hochbahn, aber fürs Kino, denkt Stave. Man muss Prioritäten setzen.
Er legt die etwa 300 Meter von der Haltestelle bis zum »Capitol« fast im Laufschritt zurück. Keine Leuchtschrift, nur ein Plakat, in der Dunkelheit kaum auszumachen, aber ein beleuchtetes Kassenhäuschen. Er kauft ein Ticket und tritt ein, ohne zu wissen, welcher Film gezeigt wird. Egal, Hauptsache, er kann sich im Raum aufwärmen. Und die Zeit totschlagen.
Die »Welt im Film«: In der Wochenschau zeigen sie Bilder aus London, dann Moskau. Stave lässt sie an sich vorbeiplätschern, ein englisches Schlachtschiff in irgendeinem Hafen, vielleicht Indien, Stalin in Uniform, der Oberinspektor taut langsam auf. Am Ende plötzlich vier Kinderbilder: namenlose, noch nicht identifizierte Flüchtlingskinder, die in Hamburg aufgegriffen worden sind. Auf diese Weise suchen die Behörden nach Eltern oder Verwandten: Vier neue namenlose Kinder jeden Tag. Wie muss man sich wohl fühlen, wenn man irgendwo im Kino hockt – und plötzlich flimmert ein Foto des eigenen, vielleicht schon totgeglaubten Kindes über die Leinwand?
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