Trümmermörder
irgendwo sonst: Warum sollte der Täter den Gehstock mitnehmen und neben den Toten legen? Obwohl er ihm doch sonst fast alles geraubt hat? Meiner Meinung nach schlägt er ihn auf dem Trampelpfad nieder, erwürgt ihn, plündert ihn aus – und übersieht dabei den Gehstock, sonst hätte er den auch noch mitgehen lassen. Ein Indiz dafür, dass die Tat während der Dunkelheit stattfand. Nicht, dass einen das überraschen würde.«
Stave starrt den Lieutenant einige Sekunden lang an. »Sie sollten zur Kripo gehen, wenn Sie sich mal beruflich verbessern wollen«, sagt er schließlich.
»Und wie erklären Sie sich die Druckmarke am Handgelenk?«, fragt Maschke. »Wenn der Täter den Alten an Ort und Stelle erledigt, dann muss er ihn weder fesseln noch irgendwohin schleifen.«
MacDonald hebt lächelnd die Hände. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Für den ist das immer noch eine Art intellektuelle Herausforderung, denkt Stave, doch gelingt es ihm nicht, wütend auf den jungen Offizier zu sein. Noch ein guter Grund, diesen Fall bald zu lösen.
»Wir kommen nicht weiter«, verkündet er. »Irgendetwas passt nicht zusammen. Drucken wir eintausend Plakate. Klappern wir die Ausgabestellen ab, vor allem rund um den Fundort. Heute müsste es besonders schnell gehen, herauszufinden, ob jemand seine Lebensmittelkarten nicht abgeholt hat. Klappern wir die Ärzte ab – vielleicht war der Alte irgendwo wegen seiner Leiden in Behandlung. Ich schreibe währenddessen einen vorläufigen Bericht für die Akte. Und dann nehmen wir uns den Schwarzmarkt vor.«
Kurz darauf ist er allein, hackt mit zwei Fingern auf der Schreibmaschine, mal schneller, mal langsamer, es klingt wie ein Maschinengewehr mit Ladehemmung. Dann überfliegt er das Geschriebene. »Die Dunkelheit drückt dieser Trümmergegend ihr besonderes Gepräge auf.« Stave wundert sich über sich selbst. Solche Sätze verirren sich normalerweise nicht in seine Berichte für die Akte. Ich werde sentimental, denkt er und fragt sich, was Cuddel Breuer oder Oberstaatsanwalt Ehrlich wohl damit anfangen werden. Soll er es umformulieren, alles noch einmal tippen? Unsinn, sollen sie ihn doch für einen verkappten Romantiker halten. Seufzend lässt er die Akte in die Halterung der Registratur gleiten.
Dann wird es eng im Büro. MacDonald kommt als Erster. Maschke erscheint und verkündet, dass er ein paar Nachzügler an den Lebensmittelkartenausgabestellen abgefangen habe – auch die hätten den toten Alten nie gesehen.
Klopfen an der Tür, gemurmelte Begrüßungen, stickiger werdende Luft: Ein Kollege vom Kriminalbereitschaftsdienst erscheint, einer vom Fahndungskommando Personen- und Sachfahndung, von der Jugenddienststelle, von der weiblichen Kriminalpolizei – und natürlich vom Chefamt S, das extra zur Bekämpfung des Schwarzmarktes eingerichtet worden ist.
Stave berichtet kurz von den Morden, merkt aber schnell, dass sich die Sache bei den Krimsches bereits herumgesprochen hat. Nett, wenn die Kollegen die eigenen Sorgen teilen. »Bei der Razzia sammeln wir vielleicht irgendetwas ein, das einem der Opfer gehörte«, schließt er. »Das wäre eine Spur.«
Der Fahnder – ein junger Mann, blass, Müdigkeitsringe unter den Augen – blickt ihn skeptisch an. »Wir haben keine Ahnung, wer die Toten sind. Wir wissen nicht, was ihnen geraubt worden ist. Selbstverständlich werden wir bei einer Razzia jede Menge Waren beschlagnahmen, aber wie sollen wir erkennen, dass irgendetwas davon aus dem Besitz eines der Unbekannten stammt?«
Stave hebt die Hände. »Auf dem Schwarzmarkt wird alles vertickt. Vielleicht will jemand einen Satz dritte Zähne loswerden? Oder ein Suspensorium? Dann würde ich mich gerne mit ihm unterhalten. Vielleicht nehmen wir ein paar Schieber mit Ami-Zigaretten oder Selbstgebranntem hoch. Die mögen nichts mit den Morden zu tun haben. Aber wenn sie erst einmal auf dem Verhörstuhl sitzen, dann fällt ihnen vielleicht was ein. Vielleicht haben sie von einem Kollegen gehört, der zunächst die Kleidung einer jungen Frau und dann die eines alten Mannes verhökert? Von einem Medaillon mit einem Kreuz und zwei Dolchen darauf? Eine vage Hoffnung, zugegeben, aber wir müssen diese Spuren irgendwie weiter verfolgen.«
»Egal, Schwarzmarkt ist Schwarzmarkt, eine Razzia ist immer gut.« Der Beamte vom Chefamt S – früher einmal fett, heute in seiner Haut schlotternd wie in einem zu großen Anzug – reibt sich die Hände. »Wir hatten seit Weihnachten
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