Trümmermörder
Stave schaudert. Gleichzeitig ertappt er sich bei dem absurden Wunsch, Karls Bild möge dort aufleuchten.
Der anschließende Hauptfilm ist »Große Freiheit Nr. 7«. Hans Albers und Ilse Werner. Ganz wie früher. Stave döst weg.
Es ist schon spät, als im Saal die Lichter angehen, flackernd. Die meisten haben es eilig, den Raum zu verlassen. Stave blickt auf seine Uhr: kurz vor elf. Um Mitternacht beginnt die Ausgangssperre. Dann darf bis 4.30 Uhr morgens niemand das Haus verlassen. »Curfew«, der englische Begriff, ist den Deutschen geläufig.
Stave tastet routinemäßig in seiner Jackentasche nach seinen Papieren: Der Polizeiausweis, der es ihm erlaubt, auch nach der Sperrstunde auf den Staßen zu sein, steckt dort. Wie immer. Also keine Eile. Gemächlich zieht er sich den Mantel an, wickelt sich in den Schal, schlägt den Kragen hoch, zerrt den Hut tief über die Stirn, zwängt sich in die engen Lederhandschuhe. Ein guter Fußmarsch liegt vor ihm, bis weit auf die andere Alsterseite. Aber er hat ja Zeit.
Er fragt sich, ob der Lieutenant einen angenehmen Samstagabend verbringt. Mit Erna Berg? Er mag MacDonald. Es gibt Hamburger, junge Kerle, manche gerade erst aus dem Kriegsgefangenenlager entlassen, die aus »nationalem Stolz«, wie sie es nennen, britische Soldaten in den dunklen Straßen anrempeln. Mehr allerdings wagen sie nicht.
Stave empfindet keinen Hass auf die Besatzer, obwohl es doch eine englische Bombe war, die ihm Margarethe geraubt hat. Er fühlt sich auf eine diffuse Art beschämt wegen der Verbrechen der Nazi-Zeit und deshalb auf perverse Art erleichtert über die Verwüstungen der Stadt und seines Lebens. Verlust als gerechte Strafe. Nun gibt es einen Neuanfang. Vielleicht.
Während er rasch ausschreitet, um sich aufzuwärmen, schweifen seine Gedanken von MacDonald zu Maschke. Über den weiß er genauso wenig wie über den britischen Lieutenant. Und er ist ihm deutlich weniger sympathisch. Warum eigentlich? Stave mag die Sprüche des Krimsches von der Sitte nicht, seinen Zynismus, seinen Spott, die Verbitterung, die Verachtung anderen gegenüber. Wahrscheinlich wird man so, wenn man täglich mit käuflichen Mädchen, deren Sultanen und ertappten Freiern zu tun hat, denkt er. Und wenn man dabei auch noch bei Muttern wohnt.
Wer weiß, wohin sie mich versetzen, wenn dieser Fall so weitergeht, fällt es Stave ein, und sein hochmütiger Spott über den Kollegen von der Sitte erlischt wie eine Glühbirne bei Stromausfall. Zwei Tote, keine echte Spur. Alle erwarten Ergebnisse von ihm: Ehrlich, Breuer, sogar der Bürgermeister. Und, verdammt, er selbst erwartet auch Ergebnisse von sich. Ich bin doch kein Anfänger mehr, sagt er sich.
Und doch nagt diese Unruhe in ihm: Was, wenn dies erst der Anfang ist? Wenn das eine Mordserie wird? Wenn man wieder und immer wieder nackte, namenlose, erwürgte Tote in den Trümmern findet? Was wird er dann tun? Den Mörder so lange gewähren lassen, hilflos, bis der Täter endlich irgendwann einen Fehler macht, und sie ihn kriegen? Und wenn er keinen Fehler macht? Was soll ich bloß als Nächstes tun, denkt Stave.
Seine Gedanken schweifen zu Anna von Veckinhausen. Was verheimlicht sie ihm – falls sie ihm etwas verheimlicht? Hat sie was mit den Morden zu tun? Hat sie etwas gesehen? Ich werde sie mir noch einmal vornehmen, beschließt Stave, schon bald. Und das hat gar nichts damit zu tun, dass sie schön ist und geheimnisvoll und dass es Samstagabend ist und er alleine vom Kino nach Hause geht.
Alleine.
Er blickt sich überrascht um. Niemand auf der Straße. Klar, kurz vor Mitternacht. Es schüttelt ihn: mindestens minus 20 Grad, Böen, die sein Gesicht treffen wie Schläge mit einem Reibeisen. Ein gelber Halbmond am sternenklaren Himmel. Keine Straßenlampen. Straßen wie düstere Schluchten. Die Trümmerberge in vollkommener Dunkelheit. Mondlicht, das durch die leeren Fensteröffnungen ausgehöhlter Häuser sickert. Bizarre Schatten. Seitenstraßen, die durch provisorische Mauern abgesperrt sind, weil es zu gefährlich ist, sie zu betreten: Jederzeit könnte ein ausgebombtes Gebäude dort zusammmenstürzen. Keine Gerüche. Keine Geräusche. Kein Motorenlärm eines in der Ferne anfahrenden Autos, keine menschlichen Stimmen, kein Radiogeplärr, kein verspäteter Vogel, der ruft. Nein, stopp.
Stave bleibt stehen und lauscht: leises Knirschen irgendwo in den Ruinen. Ein Seufzen. Ein Stein, der klackend herunterkollert. Das rhytmisch im Wind pulsierende
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