Trümmermörder
gelangweilten Blick zu. Stave ist ja nicht der Einzige, der zum Hansaplatz strebt. Männer in langen Mänteln und Schlägermützen. Alte Frauen mit Einkaufstaschen aus Bast. Ein einbeiniger Kriegsheimkehrer, der den Boden nach weggeworfenen Kippen absucht und jedes Mal, wenn er sich bückt, vornüberzustürzen droht. Arbeiter von den Werften. Männer mit abgewetzten, prall gefüllten Aktentaschen. Zwei Chinesen vor dem Eingang zur Gastwirtschaft »Lenz«.
Stave lässt sich im Auf und Ab der Menschen treiben. Langsam erkennt er Muster, wie Wellen auf einem See, wie Strömungen, umgeleitet durch einen Stein: geflüsterte Worte, Mäntel, die plötzlich aufgeschlagen werden, Koffer, die jemand hochklappt, Zigaretten und Reichsmarkscheine von Hand zu Hand, rasches Auseinanderstreben.
Im Schatten eines Hauseingangs steht eine junge Frau mit Kopftuch, die ein abgetragenes Paar Herrenschuhe anbietet. »400 Reichsmark«, flüstert sie, eine rasche Bewegung, dann schiebt sie die Schuhe einem älteren Herrn mit Aktentasche herüber, der ihr seinerseits etwas zusteckt. Dann eilen beide rasch in entgegengesetzte Richtungen davon. Ein Alter, der Brotmarken anbietet, drei Hausfrauen um ihn, offenbar empört über seinen Preis. Der Alte blickt sich nervös um. Ein ehemaliger Soldat, Stiefel viel zu groß, der umgefärbte Wehrmachtsmantel mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten, lässt eine Blechdose aus seiner Tasche lugen. Butter. »Zwei neun«, zischt er. 290 Reichsmark für ein Pfund. Schmuggler müssen eine größere Ladung durch die Kontrollen gebracht haben, glaubt Stave, sonst wäre das Zeug nicht so billig. Oder es ist gefälscht. In einer Toreinfahrt tuscheln vier Männer, plötzlich duftet es zwischen ihnen nach Kaffee, dann wechseln hastig Scheine die Hände, viele Scheine. Eine ältere, verhärmte Frau verschwindet mit einem der Chinesen in der Gastwirtschaft. »Feuersteine«, ruft ein Junge ungeniert, höchstens vierzehn Jahre alt. »Steine gefällig fürs Feuerzeug! 18 Reichsmark.« Ein anderer Halbwüchsiger verschanzt Lucky Strike, sieben Reichsmark das Stück. Langsam erlauscht sich Stave Preise im Wispern: »Wehrmachtsbesteck, rostfrei, vierteilig, sehr geeignet für Flüchtlinge – 23 Reichsmark. Eine Rolle Garn – 18 Reichsmark. Ein Pfund Zucker – 80 Reichsmark. Eine komplette Lebensmittelkarte – 1000 Reichsmark.«
Den Kartenhändler müssen wir uns ansehen, denkt sich Stave.
Die meisten Arbeiter und Angestellten bekommen kaum 50 Reichsmark Lohn in der Woche. Wenn man sechs Wochen schuften muss, um sich ein Pfund Butter zu kaufen, dann ist man wirklich arm – und bereit, auch selbst auf dem Schwarzmarkt schlechte Geschäfte zu machen. Oder risikoreiche.
Uhren, goldene Münzen, Dollarscheine in Schuhcremekisten. Zwei Meter Zinkregenrohr. Drei fangfrische Forellen. Ein Radio. Falsche Persilscheine für die Entnazifizierungsverfahren. Blanko-Pässe. Ein kleiner Perserteppich. Penicillin aus alliierten Beständen. Ein Lederkoffer. Eine Damenbluse.
Keine Prothese, kein Suspensorium, kein Medaillon.
Verdammt, denkt Stave. Der Kollege von der Fahndung hat recht: Wie soll man irgendeine Ware dieses Marktes einem der Toten zuordnen? Gehört die Bluse der Frau? Hat der Alte vielleicht ein Regenrohr aus den Trümmern gezogen und ist deshalb erschlagen worden?
»Polizei!«
Der Schrei hallt über den Platz, panisch wie der Warnruf eines Höhlenmenschen.
Tschakos, grüne Mäntel, Schlagstöcke in den Nebenstraßen. Kreischende Frauen. Jungs, die obszön fluchen. Geschiebe, Stöße und hundertfaches Scheppern: Blechdosen, das Wehrmachtsbesteck, ein Brillengestell, Damenringe, Schraubenschlüssel fliegen aufs Pflaster. Dazu Zigaretten, Persilscheine und viele, viele Reichsbanknoten.
Die erfahrenen Schwarzhändler erkennen innerhalb von einer Sekunde, dass sie in der Falle sitzen, und werfen verräterische heiße Ware davon. Verloren ist das so oder so, aber wenn man nichts bei ihnen findet, dann fällt die Strafe geringer aus.
Ihre Kunden aber und die Anfänger, die klammern sich an ihre Beute und rennen blindlings los, zur nächsten Haustür, zur Gasse, zur Kneipe. Doch überall stehen plötzlich Schutzpolizisten, manche grimmig dreinblickend, andere böse lächelnd; einige heben drohend die schweren Knüppel, doch sie brauchen nicht zuzuschlagen. Harsche Kommandos. Dann rücken die Beamten vor, treiben die Menschen enger und enger zusammen.
Stave flucht, arbeitet sich durch die Menge, tritt und
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