Trümmermörder
Knarzen einer ins Leere schwingenden Tür, auf, zu, auf, zu. Huschende Rattenpfoten, die über Balken eilen, hohes Fiepen.
Ich werde paranoid, denkt Stave. Dann geht er schneller, in der Mitte der Straße diesmal. Weit weg von den Ruinen, von der Dunkelheit. Er tastet nach seiner FN 22: das kalte, ölige Metall der Pistole, plötzlich beruhigend.
Als Stave endlich in seiner Wohnung ist, sinkt er aufs Bett: zu erschöpft, um sich umzuziehen, zu erschöpft, um noch hungrig zu sein. Zu erschöpft, um noch an Margarethe und ihren Sohn zu denken.
Schwarzmarkt
Montag, 27. Januar 1947
Minus 26 Grad Celsius. Als Stave frühmorgens aus der Haustür tritt, trifft ihn der Wind wie ein Faustschlag. Er zieht sich den Wollschal bis über das Gesicht. Mit der dick behandschuhten Linken massiert er seine Nase, damit sie nicht erfriert. Die Luft ist so trocken, dass jeder Atemzug schmerzt.
Noch vor Dienstbeginn eilt Stave zur Lebensmittelkartenausgabestelle. Entwürdigender Name. Er muss sich die Bezugsscheine für den nächsten Monat abholen, dann zu den Läden eilen und sehen, was er sich besorgen kann. Seife zum Beispiel wäre nicht schlecht. Bloß 250 Gramm sind jedem Erwachsenen zugeteilt, für vier Wochen. Da es zudem viel zu kalt und Heizmaterial viel zu kostbar ist, um sich zu baden oder zu duschen, riechen viele Hamburger wie Soldaten nach einem Feldzug: nach Schweiß, Dreck, alter Wäsche, Krätze. Stave hasst Unreinlichkeit. Er seift sich ein, duscht sich gar, wann immer es geht – auch wenn er dabei vor Kälte zittert. Also Seife. Und Kaffee wäre auch nicht zu verachten, aber den wird es wohl nicht geben.
Stave stellt sich in die Schlange vor der Ausgabestelle. Müde Gestalten, niemand spricht. Es geht schnell voran. Seit 1939 gibt es die meisten Lebensmittel und Kleidungsstücke nur noch auf Bezugsschein. Die Briten haben die Organisation des Reichsernährungsministeriums umbenannt und die Beamten weiterbeschäftigt. Und wie alle Beamten, so treiben auch sie die Bürokratie zum Exzess. 67 verschiedene Lebensmittelkarten zirkulieren mittlerweile: 21 für Verbraucher diverser Klassen, 22 Zulagenkarten, 14 Berechtigungsscheine, zwei Mahlkarten, zwei Milchkarten, zwei Bezugsnachweise für Kartoffeln, drei Tageskarten, eine Eierkarte. Dazu Sonderzuteilungskarten. Wer beim Schuster einen Absatz machen lassen muss, der benötigt dafür eine Schuhbesohlkarte.
Wenn ich die Karten fressen könnte, wäre ich wenigstens mal satt, denkt Stave, als er kurz darauf seinen gräulichen, perforierten Papierlappen in Händen hält. Er ist Normalverbraucher ohne Zulagen. Mit seiner Karte darf er sich nun pro Woche 1,7 Kilogramm mit Sägemehl gestrecktes Graubrot holen, sieben Achtel Liter Milch (blauweiße Plörre), 2,5 Kilogramm Steckrüben (weil es keine Kartoffeln mehr gibt), 15 Gramm weißgelbliche Scheiben, die als Käse gelten, 150 Gramm schwammige Masse, die sich Fleisch schimpft, 100 Gramm Fett, 200 Gramm Zucker, 100 Gramm klebrige Ersatzmarmelade, 125 Gramm Sojaflocken – Ende der Ration.
Eigentlich ein Wunder, dass dabei nicht mehr Menschen auf den Gedanken kommen, den nächsten Mitbürger zu erwürgen und bis auf die Unterwäsche auszurauben.
Die zweite Schlange: Stave steht vor einem halb ausgebombten Haus, über dessen Erdgeschossladen jemand mit Kreide »Milch-Handlung« an die rissige Mauer gekrakelt hat. Als er endlich dran ist, klatscht ihm die Besitzerin, die selbst in diesen Zeiten erstaunlich fett ist, die erbärmlichen Käsescheiben auf einen schmuddeligen Fetzen Papier.
»Milch ist bereits weg«, verkündet sie unwirsch.
»Wann wird sie wieder aufgerufen?«, fragt Stave müde.
»Morgen vielleicht. Oder übermorgen.«
Grußlos verlässt er den Laden. Den Bezugsschein kann ich mir an den Hut stecken, denkt er. Wenigstens gut, dass ich keine Kinder mehr im Haus habe. Dann erschrickt er über seinen eigenen Gedanken und geht eilig davon, als hätte ihn jemand hören können.
Als er seine Besorgungen erledigt und die kärgliche Beute in seiner Wohnung verstaut hat, geht Stave ins Büro. Keine Eile: Am Montag vor dem Monatsersten werden alle mit ihren Lebensmittelkarten und Rationen beschäftigt sein. In der Zentrale grüßt er Erna Berg, die als Einzige auf der Etage bereits vor ihm da ist. Ob die wohl für ihr Kind Milch bekommen hat, denkt Stave, wagt aber nicht nachzufragen.
Polizeiinspektor Müller hat ihm eine Notiz hingelegt. »Motiv auf dem Medaillon unbekannt. Gehe der Sache weiter nach.«
Ob er
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