Trümmermörder
Bestes tun werde, um die Gleichheit aller vor dem Gesetz zu wahren. So wahr mir Gott helfe!
Die Gleichheit aller vor dem Gesetz, Stave. Wissen Sie, wie viele Beamte der von den Briten eingesetzte Fachausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten allein in Hamburg überprüft hat? Über 66000. Und wie viele Beamte wurden als Nazis entlassen? 8800. Wissen Sie, wo sich Juden, die das KZ überlebt haben, melden müssen, wenn sie, geschwächt wie sie sind, höhere Lebensmittelrationen beantragen wollen?«
»Bei uns.«
»In der Tat: bei der Kriminalpolizei. Manchmal in den gleichen Gebäuden, manchmal in exakt den gleichen Büros, in denen noch vor zwei Jahren die Gestapo saß. Und wer, glauben Sie, sitzt manchmal noch in diesen Büros?«
Der Staatsanwalt macht eine Pause, fährt dann leiser fort: »Die Kripo teilt KZ-Überlebende in drei Gruppen ein: IA – Überzeugungstäter. Damit sind Kommunisten oder Sozialdemokraten gemeint. Interessant, dass die Kripo dabei immer noch von ›Tätern‹ spricht, nicht wahr? Dann gibt es IB – Übrige politische Täter. IC – Kriminelle und Asoziale. In welche Gruppe, glauben Sie, fällt ein Jude?
Und wer alle diese Demütigungen über sich ergehen lässt, der erhält vom Roten Kreuz eine Sonderration: ein Brot, eine Dose Fleisch, fünf Marken für Mittagessen in öffentlichen Kantinen, acht Wochen erhöhte Lebensmittelrationen auf Karte. Das ist alles. Denn die Mediziner der Hamburger Ärztekammer haben verkündet, ich zitiere, ›dass im Allgemeinen der Gesundheits- und Ernährungszustand der KZ-Häftlinge ein durchaus befriedigender ist.‹«
Ehrlichs Gesicht hat sich gerötet, seine Hand deutet nicht länger auf das Fenster, sondern umklammert eine Teetasse, weiß stehen die Knöchel hervor. Stave fürchtet, dass das Porzellan jeden Augenblick splittern wird.
»Und doch«, fährt der Staatsanwalt fort, »werde ich alles tun, um die ›Gleichheit aller vor dem Gesetz‹ zu wahren. Und wissen Sie, warum? Weil ich keine Rache will, sondern Gerechtigkeit. Weil nur mit Gerechtigkeit ein besserer Staat aufgebaut werden kann. Weil nur mit Gerechtigkeit die Angst besiegt wird. Weil nur mit Gerechtigkeit irgendwann eine Generation groß wird, für die ›Normalität‹ auch wirklich wieder normal ist.«
»Zwei Erwürgte sind nicht normal«, murmelt Stave.
»Zwei Erwürgte sind nicht normal, sie sind tragisch – doch noch nicht bedrohlich. Aber was, wenn es drei Erwürgte werden? Vier? Die Menschen werden Angst bekommen. Ängstliche Menschen sehnen sich nach einem starken Mann. Nach einem, der aufräumt, ohne Rücksicht auf Verluste. Das, Stave, ist so ziemlich das Letzte, was ich hier brauchen kann. Das würde alles, wofür ich täglich kämpfe, sabotieren.«
»Ich kämpfe auch dafür«, sagt Stave müde.
Zum ersten Mal lächelt Ehrlich. »Ich weiß. Deshalb rede ich ja offen mit Ihnen. Ich will Sie nicht unter Druck setzen.«
»Aber Sie tun es.«
»Aber ich tue es. Die Umstände tun es. Wir müssen diese Mordserie unbedingt stoppen. Wenn es wenigstens Sommer wäre! Wenn die unbehausten Menschen bloß hungern, aber nicht auch noch so erbärmlich frieren und im Dunkeln hocken würden. Dann würden Morde wie diese uns das Gruseln lehren, aber mehr vielleicht nicht. Doch nun, in diesem elenden, langen, zerstörerischen Winter: Die Stadt steht kurz vor dem Kollaps. Nichts funktioniert mehr richtig, gar nichts. Sie erleben es ja selbst jeden Tag. Das Fass, um es einmal so auszudrücken, ist randvoll.«
»Und die Erwürgten könnten der berühmte Tropfen werden.«
»So kann man das sehen. Also: Verhören Sie von mir aus jeden einzelnen Hamburger persönlich, und wenn es der Bürgermeister selbst ist! Drehen Sie jedes verfluchte Trümmerstück um auf der Suche nach Spuren! Berichten Sie mir von den absurdesten Verdachtsmomenten und den lächerlichsten Indizien! Meine Rückendeckung haben Sie. Aber bringen Sie mir den Mörder!«
Stave denkt über diese Worte nach, als er die wenigen Schritte bis zur Kripo-Zentrale zurückeilt. Rückendeckung von Ehrlich – von einem Staatsanwalt mit besten Kontakten zu den Briten. Von einem Staatsanwalt, der beharrlich untergetauchte KZ-Wärter aufspürt und meist für das Schafott plädoyiert. Und dem die Richter fast immer dabei folgen. Man kann schlechtere Verbündete haben, denkt er.
Der Oberinspektor läuft tatendurstig den Flur hinunter, fast spürt er sein hinkendes Bein nicht mehr. Ohne anzuklopfen, öffnet er die Tür
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