Trümmermörder
zum Vorzimmer.
»Frau Berg, rufen Sie doch bitte Polizeiinspektor Maschke und Lieutenant MacDonald herbei«, sagt Stave und hofft, dass seine Stimme so klingt wie immer.
Ein paar Augenblicke später stehen die Männer bei ihm im Zimmer. Stave gibt eine geraffte Zusammenfassung seines Treffens mit Doktor Ehrlich. »Wir haben alle Freiheiten und volle Rückendeckung«, schließt er.
»Rückendeckung wofür?«, fragt Maschke.
Darüber hat Stave die ganzen letzten Tage nachgedacht, seit der Razzia auf dem Hansaplatz. Beide Ermittlungen, die er nun anschieben will, sind mühsam. In einem Fall ist die Arbeit zudem politisch heikel. Im zweiten Fall werden sie Leuten auf die Füße treten, mächtigen Leuten, denn sie werden tief in deren Privatleben herumschnüffeln müssen.
»Wir nehmen uns die Displaced Persons vor, jeden einzelnen von ihnen«, sagt er zu MacDonald gewandt. »Dazu brauchen wir selbstverständlich die Zustimmung der britischen Stellen.« Weg eins, politisch heikel. »Und wir knöpfen uns alle Vermisstenfälle dieser Stadt vor«, nun zu Maschke. »Wir sehen nicht nur die Liste durch, vergleichen Namen und Alter. Wir wühlen jetzt in jedem einzelnen Fall.« Weg zwei, das Wühlen im Privatleben. »Entweder sind die Toten DPs. Dann finden wir Spuren in den Lagern. Oder sie sind Hamburger. Dann muss sie einfach irgendjemand vermissen – vielleicht ein Jemand, der nur seine Gründe hat, nicht zu uns zu gehen. So oder so: Irgendetwas werden wir finden.«
MacDonald wirkt etwas verwirrt. Und Maschke hat dieselbe graue Gesichtsfarbe angenommen wie Wehrmachtsrekruten vor wenigen Jahren, wenn sie den Marschbefehl zur Ostfront erhielten.
Das Mädchen ohne Namen
Sonntag, 2. Februar 1947
Das linke Bein schmerzt. Seit dem frühen Morgen patrouilliert Stave die Bahnsteige des Hauptbahnhofs ab wie ein nervöser Schäferhund, nun ist es später Vormittag. Ungefähr alle halbe Stunde rattert ein Zug ein, gezogen von zerbeulten Dampflocks, aus deren Schornsteinen es rußschwarz qualmt. Pfeifen. Kreischende Eisenräder.
Meistens halten zurückkehrende Kartoffelzüge: offene Güterwaggons oder Stehwagen – ehemalige Dritte-Klasse-Wagen, aus denen alle Stühle herausgerissen worden sind, um mehr Menschen hineinpferchen zu können. Männer in Anzügen oder groben Overalls taumeln hinaus, junge Frauen, so schwach, dass sie schwanken. Kopftücher, Schals, alte Gardinen um Schädel und Hals gewunden als Schutz gegen den mörderischen Fahrtwind in den offenen Waggons, nur noch die Augen sind frei. Einige tragen Pappkartons in den Händen oder Einkaufsnetze, andere zerschlissene Rucksäcke oder aus Zeltbahnen zusammengenähte Taschen. Kartoffelleute, die für Hamsterfahrten nach Lüneburg oder Holstein gefahren sind. Die Bauern dort werden reich. Die Kartoffelleute bieten ihre letzten Wertsachen an, Familiensilber, Goldmünzen, Briefmarkensammlungen, alte Bilder, geschmuggelte Wehrmachtswaffen. Viele betteln.
Die meisten kehren mit ein paar Pfund Kartoffeln zurück, andere mit leeren Händen. Einige haben aus gezackten Wunden unter zerrissener Kleidung am Arm, Oberschenkel oder Gesäß geblutet. Manche Bauern, der Bettelei müde, hetzen ihre Hunde auf die Kartoffelleute.
»Hamsterfahrten« wird das im Volk genannt, doch bei der Kripo heißt es »Erzeuger-Verbraucher-Verkehr« und ist illegal. Ein Verstoß gegen die Regeln der Zwangsbewirtschaftung, Sabotage am System der Rationierungen. Britische Militärpolizisten und Schupos überwachen die Bahnhöfe des Umlandes, sperren auch den Hauptbahnhof gelegentlich für eine Razzia ab. Schon mancher, der auf einer zermürbenden zweitägigen Bettelfahrt über Land seine goldene Uhr gegen vier Pfund Kartoffeln eingetauscht hat, ist diese Beute dann in Hamburg losgeworden und wanderte auch noch ins Gefängnis.
Stave achtet jedoch kaum auf die Hamsterfahrer, er ist nicht dienstlich hier. Er sucht die Menge nach ausgemergelten Gestalten in Wehrmachtsmänteln ab. Ob sich sein Sohn auch in solch ein Gespenst verwandelt hat? Ob er ihn überhaupt noch wiedererkennen würde? Der Oberinspektor beobachtet die Kriegsheimkehrer, wartet, bis sie sich nach einigen Sekunden auf dem Bahnsteig gefangen, sich im Gewirr orientiert haben. Dann tritt er näher, spricht sie an, kramt Zigaretten hervor. Jedes Mal das gleiche Ritual, jedes Mal die gleiche, kurze Hoffnung, wie ein Schluck Schnaps im Blut. Dann die leeren Blicke, gemurmeltes Bedauern, manchmal wirres, vielleicht wahnsinniges Gestammel.
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