Trugschluss
zerbrechlich Glück sein
konnte. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben war ihm dies bewusst geworden.
Alle Freundschaften zuvor hatte er als Spiel gesehen, als Abenteuer – doch nun
war es mehr gewesen. Umso tiefer fühlte er sich in seiner jungen Seele
verletzt. Es war, als habe man ihn seiner ganzen Zukunft beraubt.
Dieser Samstagabend mit Anja, drüben in
der kleinen Kneipe in Morcote, war deshalb Balsam für seine geschundene Seele.
Die junge Frau hatte ihn zur Begrüßung umarmt, ihm einen Kuss auf die Wange
gedrückt und ihn durch das vorweihnachtliche Ambiente des Lokals zu einem
Ecktisch geführt, auf dem bereits eine Kerze brannte. Überall in dem
beschaulich eingerichteten Raum flackerten Lichter. Im Hintergrund spielten
dezent moderne weihnachtliche Klänge. Ansonsten war es still, zumal sich an
diesem frühen Samstagabend noch kein einziger Gast hatte sehen lassen, was um
diese Jahreszeit nichts Außergewöhnliches war.
Anja konnte ihn aus der tiefen Depression
ziehen. Dieses Mädchen hatte die langen schwarzen Haare wieder zu einem
Pferdeschwanz gebunden. Sie war die Tochter des Hauses und hatte einen Ecktisch
reserviert.
Inzwischen kannten auch ihre Eltern den
jungen Mann, den sie überaus sympathisch fanden. Anja streichelte ihm über die
Hände, die er auf den Tisch gelegt hatte. »Schön, dich zu sehen«, sagte sie und
schaute ihn mit ihren großen feurigen Augen an.
»Du hast keine Ahnung, wie beschissen es
mir derzeit geht«, erwiderte er und hielt ihre rechte Hand fest. Sie war kalt.
Anja lächelte. Es war unendlich schön.
Jens fühlte sich irgendwie geborgen. Vielleicht, so dachte er in diesem Moment,
würden sie zusammen Weihnachten und Silvester feiern können.
Als die Bedienung kam, bestellte Anja
Rotwein aus der Toskana und zwei große Pizzen mit Knoblauch. »Hilft gegen alles
– nicht nur gegen Vampire«, lächelte sie. »Und wenn wir beide danach riechen,
stört’s doch keinen, oder?«, fügte sie vielsagend hinzu. Er spürte, wie sein
Herz zu pochen begann. Mit einem Schlag waren die bohrenden Zweifel verflogen.
Ein paar Worte nur, vielleicht einfach so dahingesprochen – und die Welt sieht
wieder anders aus, dachte er. Glück kann so wenig sein.
»Claudia ist weg«, sagte Anja leise und
einfühlsam. »Sie ist weg, wie Joe. Als habe es beide nicht gegeben.« Sie
streichelte wieder über seine Hände.
Jens überlegte, was er sagen sollte. Er
hatte mit Claudia abgeschlossen. Er war enttäuscht und zornig und fühlte sich
ausgenutzt. Vor ihm saß Anja – und er wollte an diesem Abend nichts anderes
tun, als den Blick nach vorne zu richten. Wenn die Arbeit bei Armstrong
abgeschlossen war, hatte er Geld genug, um mit Anja neu anzufangen. Er wollte
es sagen, einfach so. Doch irgendetwas trocknete ihm die Kehle aus.
»Sag doch was«, forderte ihn Anja
plötzlich auf, weil er viel zu lange geschwiegen hatte.
»Ich möchte dir so unendlich viel erzählen«,
begann er, »weil ich mich so schrecklich allein fühle, Anja. Allein und einsam.«
Er hielt kurz inne. »Ich weiß ja nicht, ob es dir genauso geht – seit Joe weg
ist.«
Anja hatte als Jura-Studentin gelernt,
sich in ihre Gesprächspartner zu versetzen und einfühlsam vorzugehen.
»Mir ist vieles klar geworden«, begann
sie, »sehr vieles. Es war eine schöne Zeit«, sie holte tief Luft, »eine sehr
schöne. Aber Joe hat dies wohl nie so richtig ernst genommen. All’ die Träume
von einem Haus bei San Franzsiko –, ja, Jens, das hat er nie wirklich gewollt.
Ihm ging es um Abenteuer, um ein aufregendes Leben, um Sex.«
Wie recht sie doch hatte, dachte der junge
Mann. Alles, was sie sagte, traf mit Sicherheit auch auf Claudia zu. Noch
schlimmer: Sie war es damals im Frühjahr 2000 gewesen, die ihn zu dieser Arbeit
überredet hatte. Nicht aus Liebe und Zuneigung, sondern weil es Armstrong so
wollte.
Die junge Bedienung brachte den Wein. Anja
hob ihr Glas und prostete Jens zu. Er fühlte sich plötzlich ein bisschen
besser.
»Und was hat Joe gesagt, weshalb er gehen
musste?«, fragte Jens anschließend. Er schaute in die Kerzenflamme, die zu
flackern begann.
»Die Endphase eures Projekts – und dass er
dazu in die Staaten müsse. Ohne zu sagen, wie lange. Zum Abschied hat er aber
eine Bemerkung gemacht, die mir immer mehr zu denken gibt: ›Der
wissenschaftliche Fortschritt‹, so hat er sinngemäß gesagt, ›erfordere
manchmal, den ganzen Mann‹. Und manchmal gebe es erst morgen eine Erklärung für
das Heute. Auch
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