Trugschluss
gestern seien Dinge geschehen, die erst mit den Erkenntnissen
von morgen zu verstehen seien.« Anja machte eine Pause. »Eigentlich, so hat er
gesagt, gebe es gar keine Zeit. Der Mensch sei in Abschnitte hineingeboren, die
einen Bezug zu dem Vorher und Nachher hätten.«
Jens schluckte. Er griff wieder zum
Weinglas.
»Verstehst du das?«, fragte Anja, die ihm
anmerkte, dass er sichtlich irritiert war.
»Ich glaube, ja«, erwiderte er.
7. Dezember 2003.
Die Ermittlungen schienen in eine Sackgasse zu geraten. Ohne die
Hilfe der Kollegen in Lugano, das wurde Häberle zunehmend klar, würde er keinen
Schritt mehr weiter kommen. Nach diesem Nikolaus-Wochenende blieb nichts
anderes übrig, als den offiziellen Weg zu beschreiten – auch wenn dem Chef in
Göppingen eine solche Ausweitung möglicherweise nicht gefiel. Aber wenn sich
Blühm irgendwo aufhielt, dann in Lugano. Und nur der konnte die Schlüsselfigur
zu all den Merkwürdigkeiten sein.
An diesem Sonntag, 7. Dezember 2003,
entschied sich Häberle zu einem Telefongespräch mit diesem Jens Vollmer, der
gegenüber Linkohr so wortkarg gewesen sein soll. Der Ermittler war dazu nicht
nach Geislingen gefahren, sondern erledigte dies von seinem Göppinger Büro aus.
Während irgendwo in Lugano ein Telefon klingelte, blickte er aus dem Fenster
und träumte vom klimabegünstigten Süden.
Der junge Mann meldete sich. Seine Stimme
klang verschlafen.
»Entschuldigen Sie«, begann Häberle und
nannte seinen Namen, »hier spricht die Kriminalpolizei in Göppingen. Sie
brauchen nicht zu erschrecken – ich hab nur die eine Bitte, dass wir uns einen
Augenblick unterhalten.«
Schweigen in der Leitung.
»Sind Sie noch dran?«, fragte Häberle und
lehnte sich zurück.
»Ja … ja«, hörte er einen sichtlich
irritierten Vollmer sagen.
»Mein Kollege Linkohr hat am Dienstag mit
Ihnen telefoniert, aber nun hätt’ ich noch ein paar Fragen.«
Vollmer schien verunsichert zu sein und
brauchte einige Sekunden, bis er sich durchrang: »Okay. Wenn’s sein muss.«
Häberle blickte konzentriert zu der
schneeweißen Decke und versuchte, sich den jungen Mann vorzustellen.
»Sie wissen, dass der Herr Blühm als
vermisst gemeldet ist, Ihr ehemaliger Lehrer.« Der Kommissar wartete keine
Antwort ab. »Wir haben den starken Verdacht, dass er sich in Lugano aufhält –
und Kontakt zu Ihnen aufnimmt.«
»Das hat mir Ihr Kollege auch schon
gesagt, aber ich kann nichts dazu sagen.«
»Können oder wollen?«, hakte Häberle
sofort nach.
»Soll das jetzt eigentlich ein Verhör
werden?« Vollmer wurde misstrauisch.
»Nein«, stellte der Ermittler fest, »nur
die Bitte, uns zu helfen. Möglicherweise ist Blühm in Gefahr.« Er machte eine
Pause. »Und Sie vielleicht auch.«
Der junge Mann schwieg.
»Darf ich Sie fragen, welcher Art Ihre
Tätigkeit ist?« Der Kriminalist begann, Kringel auf einen Aktendeckel zu malen.
»Ein Forschungsprojekt. Sie werden
verstehen, dass ich im Einzelnen nicht darüber reden kann.«
»Militärisch?«
»Wenn Sie mehr dazu wissen wollen, dann
wenden Sie sich an den Projektleiter«, erwiderte Vollmer sachlich.
»Und wer ist das?«
»Armstrong heißt der Mann, George
Armstrong. Ist aber derzeit im Weihnachtsurlaub.«
Häberle notierte sich den Namen und ließ
sich eine Telefonnummer geben, unter der der Mann ab Mitte Januar wieder
erreichbar sein würde. »Noch eine Frage«, fuhr der Ermittler fort, »könnte es
sein, dass Ihr …« Er suchte nach dem passenden Wort, »dass Ihr Projekt etwas
mit diesem Brummton zu tun hat?«
Häberle hörte ein tiefes Ausatmen und dann
die Stimme: »Sie werden verstehen, dass ich nichts dazu sage.«
Der Kommissar verengte die Augenbrauen und
wechselte das Thema. »Ihre Eltern wohnen in Lonsee?«
Diese Frage schien den Gesprächspartner
tief zu treffen. »Hüten Sie sich davor, meine Eltern da reinzuziehen«, brauste
er plötzlich auf, »die wissen nichts und haben gar nichts mit der Sache zu tun.«
Mit der Sache – hallte es in Häberles Kopf
nach. Mit welcher Sache, überlegte er und beendete das Gespräch.
56
Montag, 8. Dezember 2003.
Die Stimmung der Sonderkommission war auf einen Tiefpunkt gesunken.
Hinzu kam der Ärger vieler Beamten über die Urlaubssperre während den
Feiertagen. Eine Vielzahl zusätzlicher Verkehrskontrollen waren angeordnet
worden, um – wie es hieß – die Umtriebe islamistischer Tätergruppen
aufzuhellen. Überall dort, wo es Moscheen und einschlägig bekannte Vereine
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