Trugschluss
Monate
zurück. Das reicht uns. Außerdem …« Er suchte nach einer vorsichtigen Wortwahl.
»Außerdem sind die Weichen entsprechend gestellt. Bis es so weit ist, wird
schon Gras über alles gewachsen sein.«
»Und Joe?«, fragte Claudia eine Spur
leiser.
»Der wird noch gebraucht.« Armstrong
lächelte und schaute die junge Frau an. Sie war nicht nur eine gute technische
Spezialistin, sondern auch geübt und erfahren im Umgang mit Menschen. Sie hatte
es geschafft, den Männern in ihrer Gruppe reihenweise die Köpfe zu verdrehen.
Deshalb meinte Armstrong charmant: »Manchmal stellt das Schicksal halt seine
Weichen …«
Es war erstaunlich schnell gegangen. Häberles Weltbild über
Bürokratismus schien geradezu ins Wanken zu kommen. Denn bereits zweieinhalb
Stunden nach dem Gespräch mit dem Kollegen in Lugano kam der Rückruf. Der
Kommissar überlegte, ob sie damit beide gegen internationale Abkommen
verstießen. Aber letztlich zählte ja nur der Erfolg.
»Sie haben gefragt, was aus diesem Golf
von damals geworden ist«, hörte er den Schweizer mit dem italienischen Akzent
sagen. »Wir haben das nachvollzogen.« Häberle hörte Papier rascheln. Vermutlich
blätterte der Kollege im Tessin in irgendwelchen Ausdrucken. »Den Wagen gibt’s
sogar heute noch.«
»Ach«, entfuhr es dem Ermittler in
Geislingen, »jetzt wird’s ja richtig interessant.« Er stand auf und schaute auf
die Eberhardstraße hinaus, wo die endlose Lkw-Kolonne, die sich in beiden
Richtungen gebildet hatte, mit Licht dahinkroch. Die dunkelste Zeit des Jahres,
dachte Häberle und wünschte sich, im Tessin zu sein, dessen mediterranes Klima
er so angenehm in Erinnerung hatte.
»Ich weiß nicht, ob das für Sie
interessant ist«, knüpfte die Stimme im Telefon an die Bemerkung des Kommissars
an, »ich weiß ja nicht, welchen dicken Fisch Sie an der Angel haben.«
Häberle sagte nichts, sondern lauschte auf
den Kollegen, der weniger vom südländischen Temperament, als viel mehr von der
Schweizer Ruhe und Gelassenheit geprägt zu sein schien. »Dieser Golf wurde von
den bundesdeutschen Behörden damals an den rechtmäßigen Eigentümer, einen
Insolvenzverwalter, zurückgegeben. Das Auto war Bestandteil einer Konkursmasse
und auf einem Firmengelände bei unserem Flughafen abgestellt gewesen. Dort hat
es ein bis heute Unbekannter gestohlen.« So weit kannte auch Häberle die
Geschichte noch. »Das Fahrzeug war abgemeldet und wurde erst im September 2000
wieder für den Verkehr zugelassen«, berichtete der Ermittler. »Der
Insolvenzverwalter hat offenbar einen Käufer gefunden. Ist ganz erstaunlich,
schließlich war der Wagen damals schon sieben Jahre alt.« Im Telefonhörer
raschelte erneut Papier.
»Und Sie wissen nun, an wen er verkauft
wurde?«, versuchte Häberle das Gespräch zu beschleunigen.
»Ja, selbstverständlich, Herr Kollege. An
einen Ausländer. An einen Amerikaner …«
Es trat eine kurze Pause ein, während der
der Schweizer offenbar nach dem Namen blättern musste.
»Sie werden mir jetzt gleich ein gutes
Stück weiterhelfen …« sagte Häberle aus Verlegenheit. Denn irgendwie musste er
sich an den Bemühungen dieses Mannes interessiert zeigen.
»Er heißt Clearwood, Joe Clearwood. Ist am
dritten Juli 1972 in Santa Monica in Kalifornien geboren und von Beruf Physiker
oder Informatiker. Der Wagen ist noch immer auf ihn zugelassen. Brauchen Sie
die Anschrift hier in Lugano?«
»Ja, bitte«, sagte Häberle und griff zu
einem Kugelschreiber, um sich den italienisch klingenden Straßennamen
buchstabieren zu lassen.
Der Kommissar war von der Hilfe aus dem
Tessin zufrieden. Auch wenn er mit dem Namen nichts anfangen konnte, so wusste
er jetzt immerhin, dass der Golf nicht verschrottet worden war. Aber zu
glauben, der jetzige Fahrzeughalter könnte etwas mit der Leiche von vor fast
vier Jahren zu tun haben, wäre töricht, dachte er. Und doch gab es eine
seltsame Verbindung ins Tessin. Er wusste nur noch nicht so genau, wie dies
alles miteinander zusammenhing.
55
Samstag, 6. Dezember 2003.
Nie zuvor hatte Jens Vollmer eine einsamere Adventszeit verbracht,
wie in diesem Jahr. Die schöne Zeit mit Claudia lag weit zurück. Damals, in den
vergangenen Sommern am Lago Lugano, hatte er keinen Gedanken daran
verschwendet, dass alles einmal beendet sein würde, wie ein Traum oder ein
geplatzter Luftballon. Nun war er erwacht, in die raue Wirklichkeit gerissen. Alles
vorbei, als sei nie etwas gewesen. Jens spürte, wie
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