Trugschluss
Hinweise auf terroristische Anschläge im Bereich
der Schwäbischen Alb gab. Die beiden in einem Reutlinger Hotel festgenommenen
Araber galten als Top-Agenten und hatten, so ließ das Innenministerium
gegenüber den Direktionen im Lande durchblicken, schon seit geraumer Zeit unter
Beobachtung der Geheimdienste gestanden. Seit wenigen Tagen erst habe man nun
konkrete Hinweise auf geplante Anschläge erhalten, offenbar mit Hilfe der
Amerikaner, und die beiden Männer dann zur Festnahme ausgeschrieben. Dies war
erst zwei Tage nach der Kontrolle in der Nähe von Blaubeuren geschehen. Den
Ulmer Streifenbeamten konnte deshalb keinerlei Vorwurf gemacht werden. Im
Gegenteil: Sie hatten geradezu vorbildlich gehandelt, als sie nach dem
Geschehen in Steinbachs Wohnung einen möglichen Zusammenhang vermuteten und
vorsorglich Häberle verständigten – auf dem kleinen Dienstweg.
Häberle war in diesen Tagen vor
Weihnachten innerlich aufgewühlt. Was die Praktiker an der Front, nämlich diese
Streifenbeamten, für denkbar hielten, also eine Beziehung dieser Araber zur
Brummton-Szene, das galt auf höchster Führungsebene nichts. Der Kommissar
fühlte sich in seiner Weltanschauung bestätigt: Am grünen Tisch, fernab
jeglicher Realität, werden Entscheidungen getroffen – und dies oft von Kräften,
die praktische Polizeiarbeit nur theoretisch gelernt hatten. Das waren die
Momente, in denen Häberle am liebsten nach Stuttgart gefahren wäre, um dort mal
seinen Frust abzulassen. Aber mehr als die Suspendierung von seinem Amte wäre
wohl nicht dabei herausgekommen.
Häberle war Ende dieser zweiten
Adventswoche nochmal nach Geislingen gefahren, um die spärlichen Erkenntnisse
der Sonderkommission zu sondieren. Bruhn hatte wenigstens noch zugestimmt, die
Kollegen in Lugano um Amtshilfe zu bitten – bei der weiteren Fahndung nach
Blühm. Doch auch dies würde wohl nur noch auf Sparflamme geschehen, befürchtete
Häberle, der sich mit seinem jungen Mitarbeiter Linkohr in einem
Besprechungszimmer traf.
»Absolute Scheiße«, entfuhr es dem
Kommissar, der wieder einen dicken beigefarbenen Strickpulli trug, »ein
Bilderbuchbeispiel, wie es nicht laufen darf.«
»Und jetzt lassen wir den Mörder sausen …?«,
fragte ein sichtlich irritierter Linkohr, der sich in seinen Aktivitäten zurückgepfiffen
fühlte.
Häberle wirkte ernst. »Natürlich nicht.«
Er wollte dem jungen Mann nicht das ganze Engagement zerstören und grinste
deshalb. »Sie kümmern sich hier weiter drum. Sie halten den Kontakt zu der Frau
Blühm und zu den Neumanns.« Nach kurzer Pause fügte Häberle hinzu: »Lassen Sie
Ihrer Fantasie freien Lauf.«
Das ermunterte Linkohr zusehends. »Wie
meinen Sie das denn?« Er wusste doch, dass Häberle von seinen zugegebenermaßen
manchmal etwas weit hergeholten Theorien wenig hielt. Dieser aber verzog das
Gesicht zu einem positiven Lächeln: »Denken Sie doch einfach an … Einstein.«
Das Stuttgarter Innenministerium hatte eine streng geheime Liste
aller Objekte und Personen erstellt, die bis Mitte März geschützt werden
mussten. »Ein Glück, dass wir bei uns hier nicht auch noch einen Flughafen
haben«, meinte Häberle, als Direktions-Leiter Brause im Kreise der
Dezernatsleiter die Anordnungen erläuterte. Als besonders eifrig tat sich der
Kollege vom Göppinger Staatsschutz hervor, Wilhelm Brunzl, ein Beamter, dem
nachgesagt wurde, er sei so geheim, dass er manchmal seinen eigenen Namen nicht
mehr wisse.
»Die Frage sei erlaubt«, begann Häberle in
dem viel zu kleinen Besprechungsraum, an dessen Stirnseite des PD-Leiters
liebstes Präventionsplakat ›Stopp der Unfallflucht‹ klebte, »wie stark
gefährdet ist unser Raum denn nun wirklich?«
Die elf Männer, alle mittleren Alters und
um einen großen weißen Tisch sitzend, der aus kleinen Einheiten zusammengerückt
war, blickten auf Brause, dem Ältesten in der Runde, der seine Polizeiuniform
stets korrekt trug. Brause, im Grunde seines Herzens ein Badenser, war wenige
Jahre vor seinem Ruhestand ins schwäbische Göppingen versetzt worden, wo er
aber nicht heimisch werden wollte. Sein Hauptwohnsitz war irgendwo bei
Karlsruhe, was das Kennzeichen an seinem uralten BMW verriet. Als PD-Leiter
oblag ihm die Pflicht, die Terroristen-Fahndung zu organisieren. »Die
Schwäbische Alb«, antwortete er, »gilt als potentielles Ziel der Terroristen,
insbesondere der südliche Teil des Landkreises Göppingen und der gesamte
angrenzende Alb-Donau-Kreis.«
»Und konkret?«
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