Trugschluss
Göppingen zu.
Montag, 15. März 2004.
Häberle war überpünktlich. Schon kurz nach halb sieben saß er in
seinem Büro und sichtete Akten, die offenbar am Freitag auf seinen Schreibtisch
gelegt worden waren. Ein Handtaschenraub in der Oberhofenanlage, Verdacht auf
Unterschlagung in einem Unternehmen. Der übliche Kleinkram, dachte er. Der
Terror-Alarm war am späten Samstagabend abgeblasen worden.
Häberle versuchte, so gut es ging, dem
ewig grandelnden Chef Helmut Bruhn aus dem Weg zu gehen. Im Laufe des
Vormittags tauchte jedoch Direktionsleiter Manfred Brause auf, der eher
beiläufig, wie es schien, erkundigen wollte, wie denn das verlängerte
Wochenende gewesen sei. Der Kommissar blickte vorsichtig von seinem
Schreibtisch auf und zögerte einen kurzen Moment. »Danke. Sehr schön.«
Brause, dessen Uniform wieder absolut
korrekt saß, kam ein paar Schritte auf Häberle zu, der jetzt aufstand.
»Was ist eigentlich aus dieser
Brummton-Sache geworden?«, fragte der oberste Chef plötzlich. »Der Sander hat
am Samstag wieder einen großen Artikel veröffentlicht.«
Häberle verschränkte die Arme und atmete tief
ein. Er überlegte kurz und spürte, wie sein Blutdruck stieg. Was sollte jetzt
diese Frage? Der Kommissar behielt sein Gegenüber fest im Auge: »Ich hab in den
vergangenen Monaten sehr viel gelernt. Sehr viel. Und mir ist klar geworden,
dass wir manchmal viel zu sehr Realisten sind.« Häberle versuchte ein Lächeln. »Auch
wenn wir’s in unserem verdammten Job manchmal nicht wahrhaben wollen. Aber
nicht alles, was wir zu verstehen glauben, entspricht unserer Realität.« Der
Kommissar suchte nach einer vorsichtigen Formulierung. »Und dann wiederum gibt
es Momente, da liegen die Dinge viel einfacher, als wir glauben.«
»Wie darf ich das verstehen?« Brause
schien irritiert zu sein.
»Dass wir uns stets vor einem Trugschluss
hüten sollten«, erwiderte Häberle, worauf Brause zustimmend nickte und
zufrieden das Büro verließ.
Bei allem, was wir erleben, sehen und fühlen, kommt es stets
auf den richtigen Blickwinkel an. Mit den Augen von heute ist das Gestern
oftmals schwer verständlich. Und wenn wir uns die Zukunft erträumen, dann aus
der Vorstellungswelt von jetzt. Wir sind alle Teil dieser einen Zeit, aus der
wir nicht entrinnen können. Zumindest nach unseren heutigen Vorstellungen. Dass
diese Welt viel spannender und faszinierender ist, als wir zu wissen glauben,
hat uns ein Mann gelehrt, dem Frieden, Freiheit und Toleranz sehr viel bedeutet
haben: Albert Einstein, geboren in Ulm.
Irgendwann an einem Sommertag 2004.
Häberle hatte wochenlang darauf gewartet,
dass ihn Bruhn zu sich rufen und ihm ein Disziplinarverfahren androhen würde.
Irgendwann musste doch irgendeine Stelle von seinem illegalen Vorgehen
informiert worden sein. Gewiss, die bürokratischen Mühlen mahlen langsam – aber
schließlich hatte er doch angeblich hoheitliche Aufgaben gestört. Da mussten
die Drähte zwischen den Geheimdiensten und dem Innenministerium glühen. Doch
nichts von all dem geschah, grübelte Häberle an diesem heißen Sommertag, als er
allein von einer Ermittlungsfahrt vom Hohenstaufen zurück nach Göppingen
kehrte. Nur einmal, als Bruno Blühm ganz offiziell zurückgekehrt war, hatte
Bruhn so eine seltsame Bemerkung gemacht, wenngleich in einem anderen
Zusammenhang. Doch weil ihn der Chef dabei so energisch ansah, hatte Häberle
eine tiefere Botschaft vermutet: »Manchmal ist Vergessenkönnen für alle
Beteiligten am besten. So schwer es uns fällt: Nicht jede Anstrengung dient der
Gerechtigkeit.« Und dann hatte er vielsagend hinzugefügt: »Die Wege des
Schicksals sind manchmal verschlungen. Und auch wir sollten froh sein, nicht in
die Schusslinie oder gar zwischen die Fronten zu geraten.« War es eine
versteckte Botschaft gewesen?
Die Staatsanwaltschaft jedenfalls hatte
das Verfahren gegen Bruno Blühm eingestellt. Begründung: Es bestehe gegen ihn
kein hinreichender Tatverdacht, vor vier Jahren in den Fall der verkohlten
Leiche verwickelt gewesen zu sein. Ganz im Gegenteil: Unbekannte hätten
offenbar versucht, »ihn mit der Inanspruchnahme von alten Erbgut-Materialien in
die Nähe eines Kapitalverbrechens« zu rücken, schrieb der Leitende
Oberstaatsanwalt.
An diese Formulierungen musste Häberle
immer wieder denken. Auch jetzt, als er links von sich, am Südhimmel, eines der
angekündigten Hitzegewitter hängen sah. Am nördlichen Rand der Schwäbischen Alb
türmten sich
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