TS 63: Planet zu verschenken
Monatelang hatte sie sich vor Entdeckung und den unvermeidlichen Konsequenzen gefürchtet. Tag und Nacht hatte sie daran denken müssen; Angstträume hatten sie nachts aufgeschreckt. Sie wunderte sich nicht einmal darüber, daß der Zettel in ihrem Zimmer lag. Sie dachte auch keinen Augenblick daran, daß der Zettel eine Fälschung sein könnte. Sie war ihrem Schicksal dankbar, daß ihre Eltern nichts von dem Zettel wußten. Sie war auch froh, daß sie sich noch nicht ausgezogen hatte, denn so konnte sie gleich wieder hinausstürmen.
Mit ihrer Mutter hatte sie noch nicht gesprochen. Sie hörte sie in der Küche arbeiten und schlich sich vorbei. Der Vater arbeitete noch und würde erst sehr spät nach Hause kommen. Mit etwas Glück konnte sie mit Jaroslav sprechen und unbemerkt zurückkommen. Sie war überhaupt nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, so sehr saß ihr die Angst im Nacken.
Normalerweise begrüßte Jaroslav sie schon am Eingang und führte sie zur Tür des kleinen Vorzimmers, in dem sie sich immer umzog, bevor sie in das große Wohnzimmer ging, um an den Debatten teilzunehmen. An diesem Abend führte er sie aber direkt in den großen Raum.
Enni sah einen Fremden, einen Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Sie schwitzte vor Aufregung und blickte unruhig von einem zum anderen. Sie wollte endlich wissen, welche Gefahr ihr und Jaroslav drohte. Der Fremde, ein bärtiger älterer Mann, sah sie gedankenvoll von oben bis unten an. Das peinliche Schweigen wurde bald unerträglich.
Endlich eröffnete Jaroslav das Gespräch. „Das ist Captain Leuwenhoek, der Kommandant der Amsterdam. Er ist einer meiner bestenFreunde und ist deshalb auch bereit, uns aus einer großen Gefahr zu retten.“
„Folgendes ist geschehen“, fuhr Jaroslav fort. „Deine Eltern haben herausbekommen, daß du mich sehr häufig besucht hast. Leider ist es nicht dabei geblieben. Auch der Ältestenrat hat davon erfahren. Sie wollen dich noch heute abend verhören. Enni. Du weißt, was das bedeutet. Sie werden dich prügeln, bis du gestehst, daß ich dich verführt habe.“
Normalerweise wagte auf Ymir kein Mensch so offen von solchen Dingen zu reden. Das Blut schoß Enni in den Kopf und machte die Hitze noch unerträglicher. „Das ist doch nicht wahr!“ rief sie aus.
Jaroslav zuckte mit den Schultern. „Wir wissen, daß es nicht stimmt.“
„Aber der Ältestenrat wird doch nicht lügen, nur um uns bestrafen zu können!“
Captain Leuwenhoek räusperte sich. „Ich will nicht respektlos sein, aber die Mitglieder des Ältestenrates stehen nun mal in dem Ruf, die schlimmsten Heuchler und Lügner der ganzen Milchstraße zu sein. Sie können jeden Außenstehenden fragen, der geschäftlich mit ihnen zu tun hat. Sie glauben so fest an ihre Heucheleien, daß sie sie nicht mehr von der Wahrheit unterscheiden können.“
„Sie wittern eine Chance, mich loszuwerden“, mahnte Jaroslav. „Sie glauben von allen anderen nur Schlechtes. Sie wollen ganz einfach, daß ich dich verführt habe. Sie haben sich nun einmal in den Gedanken hineingesteigert und werden sich durch nichts davon abbringen lassen. Sie werden dich schlagen, bis du es zugibst. Und du wirst es zugeben, denn die Schmerzen werden furchtbar sein, und du wirst nur noch daran denken, wie du diese furchtbaren Qualen beenden kannst. Sie haben ein bestimmtes Ziel und werden alles versuchen, um es zu erreichen. Sie wollen mich loswerden, Enni. Es ist ihnen gleichgültig, was aus dir wird.“
Leuwenhoek mischte sich wieder ein. „Jaroslav ist unser Freund. Wir haben bisher dafür gesorgt, daß ihm nichts geschah. Wenn er aber schuldig ist, können wir ihn auch nicht mehr schützen. Nach dem hiesigen Recht können sie jetzt eine schwere Anklage gegen ihn erheben. Sie werden ihn verurteilen, und keiner kann ihm dann noch helfen.“
Enni wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Die beiden Männer schwiegen einen Augenblick, denn sie ahnten, was in ihr vorging.
„Was können wir denn tun?“ fragte sie schließlich völlig verzweifelt.
„Es gibt nur einen Ausweg“, sagte Jaroslav hart. „Sie dürfen dich nicht in die Hände bekommen.“
„Das können wir doch nicht verhindern. Jaroslav. Wohin soll ich denn flüchten? Auf Ymir wird mich kein Mensch unterstützen. Ich werde verhungern und erfrieren.“
„Das stimmt. Enni. Hier kann dir niemand helfen. Du hast aber oft genug gesagt, daß du gern andere Welten sehen möchtest. Jetzt bietet sich eine Gelegenheit dazu.
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