TS 68: Die Stadt im Meer
Nachtvögeln.
„Weißt du“, antwortete Barra abwesend, „du könntest eigentlich recht haben.“
„Ich habe recht“, versicherte Zee.
Die Ärztin fuhr fort: „Ja, Captain, du magst recht haben. Als ich ihn untersuchte, da hatte ich plötzlich großes Verlangen, mehr zu sehen, mehr zu lernen über die Sonne, die weiten Ebenen, alle Dinge hinter den Bergen, von denen sein Körper erzählt. Und es dauerte nicht lange, da hatte ich diese Sehnsucht auf dich übertragen.“
Zee schlug mit der Faust in ihre offene Hand.
„Natürlich! Barra, entsinnst du dich, wie er die Stadt in die Karte eingezeichnet hat? Ich glaubte, daß da der Wunsch in mir aufgekeimt sei, hierherzukommen, aber jetzt weiß ich es besser. Du warst der Anfang, du und dein begeisterter Bericht, deine wilden Theorien.“
„Hmmm. Sehr geschickt, das mußt du doch zugeben.“ Sie legte ihr Besteck hin. „Begonnen, noch ehe du ihn gesehen hattest.“
„Und wir stehen vor einer unabänderlichen Tatsache, Barra. Wir haben ihn nicht als Führer gewählt.“
„Nein?“
„Nein. Wir sind absichtlich hierhergelockt worden.“
Die Ärztin nickte lächelnd. „Daran habe ich schon lange gedacht.“
„Meine Streife hat ihn nicht zufällig gefunden, er stellte sich ihr. Er wurde nicht gegen seinen Willen untersucht, er bot sich dir an. Er ließ sich eine Woche lang einsperren, weil er wußte, daß die Saat inzwischen aufgehen würde.“ Sie strich mit einer Handbewegung über das ganze Lager hin. „Er hat dies getan. All dies ist sein Werk.“
„Warum kehrst du nicht um und gehst zurück?“ fragte Barra scharf.
„Ich werde nicht …“ Sie zögerte und sagte nach kurzem Schweigen: „Ich kann nicht, Barra.“
„Hmmm. Das dachte ich mir. Und eines Tages werde ich dir sagen, warum du nicht kannst.“
„Aber er führt uns immer weiter!“
Barra sah ihr ins Gesicht. „Und zu welchem Zweck?“
„Ich wollte, ich wüßte es!“
„Vertrau ihm, Zee. Ich tue es auch. Schließlich hätte er uns schon längst töten können, wenn er das gewollt hätte.“
„Ach, Barra, du ewige Optimistin. Natürlich hätte er das gekonnt, aber das ist es nicht, was mir Sorgen macht. Die Soldaten können jederzeit mit ihm und der Frau fertig werden. Aber, Barra …“
„Was noch?“
„Ist es dir noch nicht eingefallen, daß er uns lebend will? Alles was er tut, dient unserer Sicherheit. Und wenn er uns lebend will – was dann, Barra?“
„Du redest wie ein Schulmädchen! Fang an zu denken wie eine ausgewachsene Frau, die in der Welt herumgekommen ist!“
Wolf und die Frau erhoben sich vom Feuer und gingen in das Dunkel hinein. Barra folgte ihnen mit den Blicken.
„Zee“, sagte sie, „er wird uns weder töten noch martern oder fressen. Er wird uns auch keinen Tieren zum Fraß vorwerfen. Er betreut uns, so gut er kann. Er ist mit Korporal Avon den ganzen Weg bis zum Tunnel zurückgegangen, um sie zu beschützen. Er bedauert den Tod der sieben Frauen genauso wie wir. Also, was könnte er möglicherweise von uns wollen?“
„Du weißt es doch!“ flüsterte Zee.
Die Ärztin verbiß sich ein Lachen. Zee war wieder eine Frau geworden.
„Ja“, sagte Barra ruhig, „ich weiß es. Oder ich kann es mir wenigstens denken. Und ich bin bereit. Und du?“
Barra suchte sich vorsichtig einen Weg durch die schlafenden Soldaten. Die erste Wache war schon abgelöst. Sie ging um die angebundenen Pferde herum in die Dunkelheit.
„Wolf“, sagte sie einmal in die Nacht hinein und wartete geduldig.
Sogleich kam er mit der Frau zu ihr.
„Sprechen?“ fragte Barra.
„Sprechen“, stimmte der Mann zu. Barra blickte auf die Frau.
Wolf grinste fröhlich. „Mutter“, sagte er.
Barra lachte laut los. „Das habe ich mir doch gedacht!“ Sie sah die Frau freundlich an. „Du hast Alterszeichen, die Wolf nicht hat. Zum Beispiel deine Haut, und deine dunklen Augen. Wenn Zee nicht so blind vor Eifersucht wäre, hätte sie das auch bemerkt.“
„Eifersucht?“ fragte Wolf.
„Laß nur, du würdest es nicht verstehen. Wird deine Mutter sprechen?“
„Nicht sprechen. Hör zu …“
„Zuhören?“
„Hör zu“, wiederholte er.
Barra lauschte.
„Ich bin gern bereit, mit Ihnen zu sprechen. Worüber?“
Die Ärztin starrte sie an, erstaunt, obwohl sie an Überraschungen gewöhnt war. „Sie haben ja Ihre Lippen nicht bewegt! Sie haben gar nicht gesprochen!“
„Hör zu“, sagte Wolf noch einmal.
„Ich spreche nicht mit dem Mund“, sagte die Frau.
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