TS 72: Das Erbe von Hiroshima
ist.“
Britten war für eine Sekunde verwirrt.
„O ja, natürlich. Das ist genauso wichtig.“
Oberhauser lächelte wieder jovial.
„Kinder werden geboren – und Menschen sterben. An den meisten Tagen werden mehr Menschen geboren, als an ihm sterben. Das Bemerkenswerte an dem Geburtstag Ihrer Tochter wird sein, lieber Britten, daß an ihm diese Tatsache umgedreht wird. Heute sterben mehr Menschen, als geboren werden können …“
Bob sah ihm wortlos nach, als er das Büro verließ. Noch einmal zog er den Kalender zu Rate, aber er fand nichts Auffälliges. Der 6. August war ein Tag wie jeder andere auch. Nur daß heute seine Frau Marry eine Tochter geboren hatte, die Ann heißen sollte. Ann Britten – ein schöner Name.
Und ein schöner Tag.
Er endete für Bob jedoch nicht so schön, wie es gegen Mittag den Anschein hatte. Nachmittags war er im Hospital gewesen und hatte mit den verantwortlichen Ärzten gesprochen. Seine ungewöhnliche Neugier war aufgefallen, aber da man ihn vom Institut her kannte, hatte man ihm auf alle seine Fragen höflich und korrekt geantwortet.
Erst als Britten sich vom Chefarzt verabschiedete, zog ihn dieser beiseite und fragte:
„Hören Sie, ich kenne Sie viel zu gut, um nicht zu wissen, daß hinter Ihren Fragen ein Sinn verborgen liegt. Wollen Sie mir nicht verraten, warum Sie mit aller Gewalt versuchen wollen, Ihrem Kind einen Erbfehler nachzuweisen?“
Das war übertrieben ausgedrückt, verfehlte aber seine Wirkung nicht. Britten zuckte zusammen und wurde rot. Sein sonst so energisches Gesicht wirkte für Sekunden richtig verfallen. Dann aber huschte ein frohes Lächeln über seine Züge.
„Es sollte mich freuen, wenn meine Befürchtungen grundlos waren, Doktor. Und Ihre Frage ist unnötig, denn Sie selbst waren es, der meine Frau nach dem Unfall vor fünf Monaten behandelte. Erinnern Sie sich?“
„Natürlich erinnere ich mich. Sie glauben doch nicht etwa … ?“
„Doch, das tat ich“, nickte Britten. „Marry geriet in ein Strahlungsfeld von äußerster Energie und blieb fast zwei Minuten darin. Es handelte sich um die Nachbildung der Verhältnisse, wie sie auch im freien Weltraum wahrscheinlich vorgefunden werden. Die Dosis war stark genug, schwere Veränderungen der Gene hervorzurufen. Das noch nicht entwickelte Kind in ihrem Leib konnte beeinflußt werden. Sind Sie sicher, daß das nicht geschehen ist?“
Der Chefarzt schüttelte energisch den Kopf.
„Sie können sich darauf verlassen, daß Ihre kleine Tochter genau so gesund ist wie Ihre Frau. Wir haben an beiden nichts Ungewöhnliches feststellen können.“
Nun endlich schien Britten beruhigt.
„Danke, Doktor. Ich glaube, ich werde in dieser Nacht zum erstenmal wieder ruhig schlafen können. Seit fünf Monaten litt ich nämlich unter Alpträumen.“
Britten aß in einem kleinen Restaurant, dann brachte der kleine Wagen ihn nach Hause. Leer schien ihm das vertraute Heim, aber bald würde Marry wieder bei ihm weilen. Und nicht nur Marry, sondern auch ein neugeborenes Mädchen, als Ersatz für die vielen anderen, die täglich starben.
Wie hatte Professor Oberhauser doch gesagt? Heute würden mehr Menschen sterben, als geboren werden könnten …
Britten dachte über den Sinn der rätselhaften Worte nach, bis er plötzlich spürte, wie seine Knie zu zittern begannen.
Er wußte jetzt, was der Professor gemeint hatte.
Ann Britten, seine Tochter, war unter einem Stern geboren worden, den es bis heute noch nicht gegeben hatte, unter einem Stern, der an keinem Nachthimmel stand, weil er ein künstlicher Stern war, von Menschenhand geschaffen, um Menschenleben zu vernichten.
Heute war der Tag X.
Irgendwo starben heute Zehntausende von Menschen in der unvorstellbaren Hitze einer künstlichen Sonne. Irgendwo beendete die erste Atombombe den zweiten Weltkrieg …
*
Das zweite Schuljahr begann für Ann Britten mit einem Erlebnis, das erst viele Jahre später seine Erklärung finden sollte. Heute blieb es ohne Bedeutung.
Auch dieser Tag begann wie jeder andere.
Bob Britten hatte sich rasiert und am Frühstückstisch Platz genommen. In den vergangenen sieben Jahren war der Wissenschaftler älter und seine Haare grauer geworden. Schon längst arbeitete er nicht mehr im Institut für Strahlungsforschung und Atomwissenschaft, sondern er hatte das Angebot Oberhausers angenommen und leitete für den Gelehrten eine Nebenstelle des Forschungsamtes für Strahlungseinflüsse auf Erbeigenschaften des
Weitere Kostenlose Bücher