TS 72: Das Erbe von Hiroshima
irgendwo aufgeschnappt haben; vielleicht damals, als Miß Turner, ihre Lehrerin, bei ihren Eltern zu Besuch war.
Marry drohte mit dem Zeigefinger.
„Werde nur nicht zu selbstsicher, sonst erlebst du eine große Enttäuschung. Sei froh, wenn du nicht die Dümmste bist.“
„Das ist Mabel Duncan, ich kann es also niemals werden“, versicherte Ann. „Dümmer als Mabel kann niemand sein.“
Bob seufzte und trank seinen Kaffee aus. Er erhob sich.
„Du mußt dich beeilen, wenn du mitkommen willst“, sagte er und ging aus dem Zimmer. Er nahm Ann morgens immer mit, wenn er zum Institut fuhr und setzte sie vor der Schule ab. Mittags wartete er dann wieder geduldig vor dem Portal, bis seine Tochter inmitten einer Schar quicklebendiger Mädchen das helle Betongebäude verließ und dann zu ihm in den Wagen kletterte. Es war praktisch so, daß er sich nach dem Stundenplan seines Kindes richtete.
Marry sah ihm nach, dann nickte sie Ann zu.
„Hast du gehört? Nun sprich nicht soviel, sondern iß! Dad hat wenig Zeit, du weißt das.“
Zehn Minuten darauf glitt der schwere Plymouth aus der Garage und bog in die Avenue ein, die zur Stadt führte. Stolz saß Ann neben ihrem Vater, die Mappe mit den Büchern fest an sich gedrückt.
Miß Turner schien an diesem Morgen launischer denn je zu sein. Sie begrüßte ihre Schülerinnen nur mit einem knappen Nicken ihres Kopfes, verteilte die Hefte und schrieb die Aufgaben an die Tafel. Dann zog sie sich hinter ihr Pult zurück. Dort saß sie dann, das Gesicht der Klasse zugewandt und mit strengem Blick darüber wachend, daß niemand auf den Gedanken kam, vom anderen abzuschreiben.
Ann machte sich eifrig daran, die gestellten Aufgaben zu lösen. Bereits nach einer halben Stunde klappte sie das Heft zu und schob es an den Rand ihres Tisches. Zufrieden und sehr stolz sah sie sich um, aber niemand schien von ihrem Triumph Kenntnis nehmen zu wollen.
Ein wenig enttäuscht legte sie dann beide Ellenbogen auf den Tisch und starrte gedankenverloren auf die Tafel mit den Aufgaben. Sieben Stück waren es, und die nächste immer schwieriger als die vorangegangene. Besonders die letzte war nicht gerade einfach gewesen.
Vielleicht hatte sie diese doch nicht richtig gelöst …
Ihr kamen plötzlich Zweifel. Vorsichtig, als täte sie etwas Verbotenes, nahm sie noch einmal ihr Heft und rechnete nach. Miß Turner warf ihr einen mißtrauischen Blick zu, vertiefte sich aber dann wieder in das Buch, das vor ihr auf dem Pult lag.
Und noch etwas anderes lag auf dem Pult. Ann bemerkte es plötzlich, und sie wußte, daß in dem blauen Heft die Lösungen der Aufgaben standen, die sie im Schweiße ihres Angesichtes nun nachrechnete.
Nein, sie konnte keinen Fehler entdecken. Selbst die letzte Aufgabe schien einwandfrei gelöst. Natürlich, Gewißheit würde erst das blaue Heft der Lehrerin geben können.
Miß Turner erhob sich plötzlich und verließ das Podest. Mit auf dem Rücken gelegten Händen wanderte sie langsam durch die Gänge zwischen den Bänken. Hier und da warf sie einen kurzen Blick in die Hefte der Schülerinnen, aber nichts in ihrem Gesicht verriet, ob sie eine falsche oder richtige Lösung entdeckt haben mochte.
Ann achtete auch nicht darauf, sondern starrte nach wie vor auf das blaue Heft auf dem verlassenen Pult. Wenn sie doch nur einen Blick hineinwerfen dürfte …
Sie saß in der zweiten Bank, keine drei Meter von dem Pult entfernt. Vor ihr hockte Mabel Duncan und versuchte vergeblich, die Lösung der ersten Aufgabe zu bewältigen. Man konnte ihr nicht einmal dabei helfen.
Jetzt befand sich Miß Turner ganz hinten bei der letzten Reihe.
Ann sah das blaue Heft greifbar nahe vor sich und wünschte nichts sehnlicher, als es in den Händen zu halten. Ihre Augen saugten sich daran fest, als wollten sie es emporheben und zu ihr bringen. Ihre ganzen Gedanken konzentrierten sich und …
Und dann geschah es.
Das blaue Heft bewegte sich, ohne daß jemand es anfaßte. Wie von einer Geisterhand angehoben verließ es die leicht geneigte Platte des Pultes, stieg etwa fünf Zentimeter hoch und schwebte dann auf Ann zu, als hielte diese den unsichtbaren Faden, der es heranzog.
Fassungslos sah Ann ihren Wunschtraum in Erfüllung gehen, aber die Tatsache erschreckte sie maßlos.
Das Heft war noch einen Meter von ihr entfernt und begann, sich ein wenig zu senken, als Mabel Duncan aufsah. Sie erblickte dicht neben ihrem Kopf den haltlos schwebenden Gegenstand und stieß einen entsetzten
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