TS 72: Das Erbe von Hiroshima
immer wieder, den Beginn der geplanten Aktion hinauszuschieben.
Sie begann sogar zu zweifeln, daß sie ihre Absichten allein und ohne Hilfe durchführen konnte.
Die Kellnerin kam. Ann bestellte eine Kleinigkeit zu essen und einen Kaffee. Dann blieben ihr noch einige Minuten der angenehmen Untätigkeit, die das Warten auf eine Mahlzeit ausfüllten, zu der jeglicher Appetit fehlte.
Sie sah Doktor Sullivan in seinen Wagen klettern und davonfahren. Er würde in zehn Minuten zu Hause sein, in seinem kleinen Heim am Rande der Großstadt. Eine freundliche und liebenswerte Frau würde ihn empfangen – seine Frau. Zwei Töchter – eine davon bereits verheiratet – vervollständigten die Familie.
Sie beneidete ihn heimlich, ohne es sich selbst zugeben zu wollen. Wenn sie gewollt hätte, könnte auch sie heute ein Heim besitzen, Gattin eines Mannes sein – und vielleicht sogar Kinder haben.
Aber Unsinn. Man hätte sie daran gehindert.
Die Kellnerin kam und setzte das Tablett ab.
„Ziemlicher Betrieb heute“, stellte sie dabei fest und sah für einen Augenblick hinauf in den klaren, blauen Himmel. „Bei dem Wetter auch kein Wunder.“
Ann gab ihr geistesabwesend recht und nickte. Die Kellnerin zog etwas beleidigt ab, weil ihre doch sicherlich richtige Bemerkung kein weiteres Echo fand.
Ohne zu wissen, wie der Kartoffelsalat und die Würstchen schmeckten, aß Ann. Lediglich der starke und heiße Kaffee weckte ihre Lebensgeister und ließ sie das sehen, was sie vielleicht sonst nicht bemerkt hätte.
Und dann, als die Erkenntnis ihr Bewußtseinszentrum erreichte, als die vage Gedankenspielerei zur plötzlichen Gewißheit wurde, traf es sie wie ein Schlag.
Fünf Tische von ihr entfernt saß Lex Harnahan und beobachtete aufmerksam den Ausgang der Klinik.
Ann stellte langsam den Kaffee auf den Tisch zurück, obwohl ihre Hände wie Espenlaub zu zittern begannen. Alles Blut strömte zu ihrem Herzen und sie sagte sich, daß es Angst sei. Angst vor der Entdeckung und noch viel mehr Angst vor der unwiderlegbaren Tatsache, daß Lex ihre Spur gefunden hatte. Und was Lex gelungen war, konnte auch anderen gelungen sein.
Es war also weniger Lex, der ihr diesen Schrecken einjagte, als die Erkenntnis, daß sie sich nicht genügend gut versteckt hatte. Immerhin, tröstete sie sich schnell, hatte es sechs Jahre gedauert.
Er wandte ihr den Rücken zu und musterte jede Frau, die aus der Klinik kam. Er war mit seinen Beobachtungen so beschäftigt, daß er gar nicht auf den Gedanken kam, die Gäste des Restaurants näher in Augenschein zu nehmen. Hätte sie heute das Krankenhaus wie immer durch das Hauptportal verlassen, würde er sie sofort entdeckt haben.
Ihr erster Impuls war, aufzustehen und das Gartenlokal zu verlassen. Die Kellnerin kannte sie, und sie konnte morgen bezahlen. Aber dann zögerte sie.
Noch vor einer Minute war es ihr größter Wunsch gewesen, nicht mehr allein sein zu müssen. Und nun, da der einzige Mensch – außer ihren Eltern –, der als Gesellschaft in Betracht kam, einige Meter von ihr entfernt saß und auf ein Zeichen von ihr wartete, überwog erneut die Vorsicht alle Gefühle.
Warum war er ihr gefolgt? Liebte er sie immer noch, obwohl er nicht mehr geschrieben hatte? Oder – handelte er im Auftrag der Regierung?
Ihre kleinen Hände ballten sich unmerklich zu Fäusten.
Die Regierung? Sie hatte keine Angst mehr vor der Regierung. Sie war stärker als sie alle. Wenn sie wollte, würden alle ihre Verfolger vor eine unsichtbare Energiebarriere rennen. Selbst mit Gewehrschüssen konnten sie ihr nicht mehr beikommen. Sie war kein normaler Mensch mehr, sondern ein Supermensch, ein Ungeheuer, ein unbesiegbares Monster.
Und so eindringlich wie noch nie zuvor erkannte sie plötzlich die ungeheure Gefahr, die sie darstellen konnte. Lex hatte das damals ganz richtig erkannt. Jemand, der nicht die absolute Reinheit ihrer Beweggründe besaß, konnte die gesamte Zivilisation vernichten. Und welcher Mensch kann auf die Dauer allen Versuchungen widerstehen?
Konnte sie, Ann, das wirklich?
Konnte sie es, wenn sie allein blieb?
Wenn sie nur wüßte, wie es hinter der Stirn Lex Harnahans aussah. Welches waren seine wahren Motive, ihr zu folgen und sie zu suchen. Vielleicht war es sogar reiner Zufall gewesen, und er saß jeden Tag vor einer anderen Klinik. Er konnte einen ihrer Briefe an die Eltern gesehen und sich einen Vers darauf gemacht haben. Der Zusammenhang war nicht schwer zu erraten.
Sie hatte ganz
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