TS 72: Das Erbe von Hiroshima
zumindest, daß mit den beiden Toten etwas nicht in Ordnung war. Sie hatten keine Papiere besessen. Außerdem mußte die Wagennummer falsch gewesen sein, denn sonst hätte man den Besitzer feststellen können.
„Ja“, nickte sie, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend.
Er lächelte.
„Ich wollte in meiner Jugend immer gern Chefinspektor von Scotland Yard werden“, gab er zu. „Ich wette, die Polizei wird sich noch mit dem Unfall befassen müssen. – Haben Sie die Neuzugänge eingetragen?“
Sie nickte schnell. Ein Glück, daß er das Thema wechselte.
Er kam auch nicht mehr darauf zurück, obwohl sie es kaum für möglich hielt, daß er die Zeitungsnotiz am folgenden Tage übersehen hatte.
Sie lautete:
UNFALLTOD ERSPART DEM HENKER ARBEIT
Eigener Bericht. – Die beiden Toten von der Hardingstreet konnten inzwischen identifiziert werden. Es handelt sich nach Angaben der Polizei um Peter Kelly, den geflohenen Raubmörder, der vor einigen Wochen zum Tode durch den Strang verurteilt wurde. Der zweite Insasse des Unglückswagens wird als ‚unbedeutendes Mitglied einer ausländischen Botschaft’ bezeichnet, dessen Name geheimgehalten wird.
Ann erschrak nachträglich und sagte sich, daß sie künftig ständig inGefahr schwebte. Die Bande würde es nicht bei dem ersten Versuch lassen. Vielleicht war es besser, eine neue Wohnung zu suchen.
Aber sie verschob es von Tag zu Tag; und als sie keine Anzeichen entdecken konnte, daß man sie beobachtete oder verfolgte, stieg ihre Selbstsicherheit erneut an. Vielleicht hatte der Unfall die Unbekannten gewarnt. Sie wußten, daß mit ihr nicht zu spaßen war. Und – man überschätzte sie gewiß.
Ann jedoch blieb in den kommenden Wochen und Monaten nicht müßig. Der Zwischenfall hatte sie gelehrt, daß noch etwas anderes dazu gehörte, endgültige Vollkommenheit zu erlangen: sie mußte ihr Bewußtsein spalten können.
Es mußte ihr gelingen, ihre Konzentration zwei verschiedenen Gegenständen zuzuwenden, ohne an Intensität einzubüßen. Das Gehirn mußte sich daran gewöhnen, zwei verschiedene Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen. Der normale Teil mußte unabhängig von der transzendenten Partie weiterarbeiten.
Sie versuchte es zu Hause, indem sie das Radio einschaltete und einen Vortrag aufmerksam verfolgte, während sie gleichzeitig die Deckenleuchte in Schwingungen versetzte.
Sie benötigte vier Monate, bis ihr das gelang.
Danach ging es schneller.
Bald konnte sie in der Klinik mit Doktor Sullivan sprechen und ihm antworten, während sie hinter seinem Rücken die Gegenstände auf dem Schreibtisch versetzte, ohne sie auch nur zu sehen. Es genügte, sich zu erinnern, wo sie lagen.
Die Monate wurden zu einem Jahr. Dann zwei Jahre.
Sie fühlte sich wieder sicher, denn nie mehr hatte sie etwas von jenen Leuten gespürt, die hinter dem angeblichen Miller standen. Aber die politische Lage erinnerte sie an ihre Aufgabe.
Heute schien die Sonne besonders warm, und sie ging nach dem Dienst nicht sofort nach Hause. Gegenüber von der Klinik lud ein Gartenrestaurant sie ein, einmal das Kochen sein zu lassen.
Eigentlich kam ihr der Gedanke erst, als sie – durch den Hinterausgang kommend – bereits auf der Seitenstraße war. Sie machte einen kleinen Umweg und betrat das Restaurant durch den Garten. Sie fand einen freien Tisch und setzte sich. Von hier aus konnte sie alles übersehen, bis hinüber zum Haupteingang der Klinik. Wagen hielten dort und fuhren wieder an. Viele ihrer Kolleginnen wurden abgeholt.
Für einen Augenblick spürte sie das Verlangen, nicht mehr so allein sein zu müssen, aber sie bekämpfte die unausgesprochene Sehnsucht, wie das bereits seit Jahren geschah. Die Verantwortung, die auf ihr lastete, drängte die natürlichen Gefühle zurück. Sie hatte zwei Pflichten zu tragen, wie sie auch zwischen zwei Fronten stand. Sie war selbst das erste offensichtliche Ergebnis radioaktiver Erbbeeinflussung und somit der Vorbote einer neuen Rasse und ihr Vertreter. Gleichzeitig vertrat sie die Mitschuld ihres Vaters und wollte sein Vergehen schmälern, indem sie half, seinen Wunschtraum zu verwirklichen. Sie konnte es nur, weil seine Mitschuld sie zu einem Übermenschen hatte werden lassen. Seine Schuld also ermöglichte erst das Gute.
Es war eine sehr komplizierte Situation, und manchmal wurde sie selbst nicht mehr daraus klug, aber sie wußte mit hartnäckiger Sicherheit, welchen Weg sie einzuschlagen hatte. Die Angst vor der Entscheidung jedoch zwang sie
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