TS 72: Das Erbe von Hiroshima
nie, unbemerkt ihre Wohnung zu verlassen, aber ausgerechnet heute schien sich niemand um ihre Gepflogenheiten kümmern zu wollen.
Der zweite Stock, Parterre – nun der lange Gang und die Haustür.
„Öffnen Sie jetzt die Haustür; der Wagen steht genau davor auf der Straße. Gehen Sie darauf zu, ohne nach rechts oder links zu sehen und steigen Sie ein. Viel Verkehr ist ja jetzt nicht mehr. Kommen Sie nicht auf die Idee, einen Passanten anzusprechen …“
Die Tür war noch nicht verschlossen.
Der runde Metallknopf fühlte sich an wie Eis. Zögernd drehte sie ihn, immer noch nach einem Ausweg suchend. Vielleicht war es noch zu früh und sie mußte warten, bis ihre Entführer sorgloser wurden. Auf der Fahrt bot sich am leichtesten eine Möglichkeit.
Sie drückte die Tür auf und sah den schwarzen, geschlossenen Wagen. Ein Mann blickte gelangweilt aus dem herabgedrehten Fenster. Als er sie bemerkte, beugte er sich vor und startete den Motor.
Dann rief er leise:
„Beeilung, Miller! Da vorn kommt eine Streife …“
Ann stolperte, als der Mann hinter ihr sie kräftig in den Rücken stieß. Aber seine Absicht, sie zur Eile anzutreiben, hatte den gegenteiligen Erfolg. Ann verlor den Halt und stürzte. Sie streckte unwillkürlich die Hände vor und fing den Aufprall ab.
Noch während sie fiel, arbeitete ihr Gehirn fieberhaft.
Eine Streife! Vorn!
Der Wagen stand mit dem Kühler nach rechts, also näherte sich die Streife von dort. Es mußten mindestens zwei Polizisten sein. Die Entführer würden es nicht wagen, auf sie zu schießen, wenn sie den Versuch unternahm …
Miller wäre fast über sie gefallen, aber sie handelte blitzschnell, ohne weiter zu überlegen. Ihre Bewegungen flossen ineinander über; aus der Fallstellung wurde die typische Haltung eines Sprinters vor dem Start. Die angezogenen Knie gaben ihr die Möglichkeit, ohne weitere Vorbereitungen davonzuschnellen, ehe Miller sich bückte. Sie glitt ihm förmlich aus den Händen.
Die beiden Uniformen der Polizisten hoben sich deutlich vom hellen Hintergrund der Hauptstraße ab, während sie selbst aus dem Dunkel kam. Hinter ihr stieß Miller einen ärgerlichen Fluch aus, und sie hörte, wie er zu laufen begann. Dann aber knallte ein Wagenschlag, der Motor heulte auf und die Reifen quietschten.
Ann sprang in den nächsten Hauseingang und drückte sich gegen die Wand. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie hatte nur den einen Gedanken jetzt: den Wagen in eine andere Richtung zu lenken.
Das schwarze Fahrzeug näherte sich ihr viel zu schnell, aber es machte keine Anstalten, die Geschwindigkeit zu drosseln. Die Streife schien zu nahe.
Die beiden Polizisten blieben stehen, als das schwarze Auto plötzlich mitten auf der Fahrbahn seine Richtung änderte und genau auf sie zukam. Die Scheinwerfer stachen ihnen grell in die Augen, aber es blieb ihnen Zeit genug, rechtzeitig beiseite zu springen. Dann raste das Vehikel, an dessen Steuer ein Verrückter sitzen mußte, den Bordstein herauf und krachte in voller Fahrt gegen die Häuserwand.
Die Scheinwerfer erloschen in dem berstenden Aufprall. Jemand schrie, der Motor erstarb – und dann war Stille. Nichts rührte sich mehr.
Ann sah von ihrem Versteck aus, wie die beiden Polizisten zur Unglücksstelle eilten und versuchten, die verbeulten Türen zu öffnen. Für einen Augenblick kämpfte sie mit dem Verlangen, ihnen ihre Unterstützung anzubieten, um den Verletzten zu helfen, aber dann siegte ihre Vorsicht.
Sie hätte ihren wirklichen Namen angeben müssen. Vielleicht hätte man sie sogar in Zusammenhang mit dem Unglück gebracht, denn die Streife hatte sicherlich beobachtet, daß der Wagen vor ihrer Haustür gehalten hatte.
Jemand lief an ihr vorbei, ohne sie zu sehen. Einige Fenster öffneten sich; Rufe wurden laut.
In der allgemeinen Verwirrung gelang es Ann, unbemerkt die wenigen Schritte zurückzugehen und ins Haus zu treten. Niemand begegnete ihr. Sie atmete erst auf, als sie die Tür hinter sich verschlossen wußte und atemlos auf die Couch sank.
Sie begriff nicht recht, was geschehen war. Ihr bloßer Wunsch hatte genügt, die Entführer verunglücken zu lassen. Es war nicht ihre Absicht gewesen, und nun waren sie vielleicht sogar schwer verletzt. Oder gar tot.
Draußen heulte die Sirene eines Unfallwagens.
Es war Notwehr gewesen, sagte sie sich. Sie hatte den Wagen in eine andere Richtung lenken wollen, mehr nicht. Vielleicht hatte der Fahrer gespürt, daß ihm das Fahrzeug nicht mehr
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