TS 94: Sehnsucht nach der grünen Erde
Glück, George. Der Doc ist jetzt bereit, dich zu empfangen.“
Er schüttelte Charlies Hand und meinte: „Du kannst ruhig wieder zur Arbeit gehen. Schließlich sehe ich dich am Montag wieder, dem ersten Besuchstag.“
„Ich warte hier“, sagte Charlie. „Ich habe mir heute freigenommen, das weißt du doch? Und abgesehen davon, vielleicht brauchst du gar nicht hin.“
Er ließ die Hand los und starrte Charlie an. Langsam fragte er: „Was meinst du damit, Charlie – vielleicht brauche ich gar nicht bin?“
„Wieso …?“ Charlie blickte verwirrt drein. „Wieso, vielleicht sagt er, du seiest in Ordnung, oder empfiehlt dir bloß, ihn regelmäßig zu besuchen, bis du wieder auf der Höhe bist, oder –“ Mit dünner Stimme schloß er: „– oder so etwas.“
Ungläubig starrte er Charlie an. Er wollte fragen: „Bin ich verrückt oder bist du es?“, aber das würde sich unter den gegebenen Umständen nicht minder verrückt anhören. Doch er mußte sich vergewissern – darüber, daß Charlie eben nicht laut gedacht und sich dabei verplappert hatte; möglicherweise war er nur in die Rolle verfallen, die er bei seiner Unterredung mit dem Arzt hatte spielen müssen.
Er fragte: „Charlie, weißt du denn nicht mehr, wie du …?“ Aber selbst der Rest des Satzes erschien ihm zu unsinnig, als daß er es gewagt hätte, ihn auszusprechen – noch dazu, wo Charlie ihn bestürzt ansah. Die Antwort stand Charlie ins Gesicht geschrieben; sie brauchte nicht erst über seine Lippen zu kommen.
Charlie wiederholte: „Ich warte natürlich. Viel Glück, George.“
Er blickte in Charlies Augen und nickte, dann drehte er sich um und schritt durch die Tür, auf der „Privat“ stand. Er schloß sie hinter sich und betrachtete den Mann, der an einem Schreibtisch gesessen und sich nun erhoben hatte. Es war ein großer Mann, breitschultrig, mit wellig grauem Haar.
„Dr. Irving?“
„Ja, Mr. Vine. Wollen Sie bitte Platz nehmen?“
Er ließ sich in den komfortablen Sessel gegenüber vom Schreibtisch des Psychiaters fallen.
„Mr. Vine“, sagte der Arzt, „eine erste Unterredung dieser Art bringt immer einige Schwierigkeiten mit sich. Für den Patienten, meine ich. Solange Sie mich nicht näher kennen, wird es Ihnen schwerfallen, eine gewisse Zurückhaltung zu überwinden. Ziehen Sie es vor, selbst zu sprechen, die Dinge in Ihre eigenen Worte zu kleiden, oder hätten Sie es lieber, wenn ich Ihnen Fragen stelle?“
Vine dachte darüber nach. Ursprünglich war es seine Absicht gewesen, die bewußte Geschichte vorzubringen, aber jenes letzte Gespräch mit Charlie hatte alles geändert.
Er sagte: „Vielleicht ist es besser, wenn Sie mir Fragen stellen.“
„Nun gut.“ Dr. Irving nahm einen Kugelschreiber zur Hand und rückte seinen Notizblock zurecht. „Wann und wo sind sie geboren?“
Er holte tief Luft. „Nach bestem Wissen und Gewissen am 15. August 1769 in Korsika. Natürlich kann ich mich nicht wirklich an meine Geburt erinnern. Dafür weiß ich aber noch Einzelheiten aus meiner Jugendzeit, die ich auf Korsika verbrachte, bis ich zehn Jahre alt war. Dann schickte man mich nach Brienne zur Schule.“
Anstatt sich Notizen zu machen, klopfte der Arzt mit dem stumpfen Ende des Kugelschreibers auf seinen Notizblock. Er fragte: „Welches Datum haben wir jetzt?“
„Juli 1964. Ja, ich weiß, dann müßte ich rund zweihundert Jahre alt sein. Sie fragen sich mit Recht, wie ich mir das erkläre. Nun, ich erkläre es mir gar nicht. Genausowenig wie die Tatsache, daß Napoleon 1821 starb.“
Vine lehnte sich zurück in seinen Sessel und verschränkte die Arme; sein Blick war zur Zimmerdecke gerichtet. „Ich versuche überhaupt nicht, für die Widersprüche und Unstimmigkeiten irgendeine Erklärung zu finden. Ich akzeptiere sie als solche. Doch nach meinem eigenen Gedächtnis, und abgesehen vom logischen Für und Wider, war ich siebenundzwanzig Jahre lang Napoleon. Ich will gar nicht erst aufzählen, was in dieser Zeit geschah; es ist alles den Geschichtsbüchern zu entnehmen.
Aber dann, im Jahre 1796, trat der Wendepunkt ein. Es war nach der Schlacht bei Lodi – ich hatte damals den Oberbefehl über die in Italien stationierten Armeen –, als ich mich eines Nachts zur Ruhe begab. Ich tat dies, soviel ich weiß, genauso wie jeder andere Mensch hier auf der Erde, egal, wo und in welchem Zeitalter. Aber ich erwachte in einem Spital – übrigens ohne das geringste Gefühl für die Zeit, die verflogen war –, und
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