TS 94: Sehnsucht nach der grünen Erde
man sagte mir, ich hieße George Vine und sei siebenundzwanzig Jahre alt, und auf meine Frage, welches Jahr wir schrieben, erwiderte man: ,1961!’
Was meine Altersangabe betraf, so stimmte sie; aber das war auch alles. Absolut alles. Ich erinnere mich an keinerlei Einzelheiten aus dem Leben des George Vine, aus jenem nämlich, das er vor seinem – beziehungsweise meinem – Erwachen im Spital führte. Jetzt weiß ich ganz gut darüber Bescheid, aber nur, weil man mich aufklärte.
Ja, ich kenne sein früheres Leben. Ich weiß, wo und wann er geboren ist, welche Schulen er besuchte und wie es dazu kam, daß er bei der Blade als Laufbursche anfing. Ich weiß, wann er in die Armee eintrat und wann er aus ihr entlassen wurde – im Frühjahr 1954. Er hatte sich eine Beinverletzung zugezogen. Seine Entlassung hatte jedenfalls nichts mit irgendeiner ,Neurose’ zu tun.“
Der Arzt hörte auf, mit dem Kugelschreiber zu spielen. Er fragte: „Sie haben dieses Gefühl seit drei Jahren mit sich herumgetragen – und es geheimgehalten?“
„Ja. Ich hatte nach dem Unfall Gelegenheit, über die ganze Sache nachzudenken – ja, und so entschloß ich mich dann, das, was man mir über meine Person sagte, zu akzeptieren. Andernfalls wäre ich natürlich eingesperrt worden. Gewiß, ich habe versucht, eine Antwort auf all die Rätsel zu finden … Ich habe Dünnes Zeittheorie studiert – sogar Charles Fort!“ Er grinste plötzlich. „Schon mal etwas über Kaspar Hauser gelesen?“
Dr. Irving nickte.
„Vielleicht spielte er seine Rolle genausogut wie ich. Überhaupt, ich frage mich, wieviel andere Menschen, die unter Amnesie litten, lieber vorschützen, nicht zu wissen, was in einem gewissen Zeitabschnitt geschah – als zugeben zu müssen, daß ihre Erinnerungen ganz offensichtlich den Tatsachen widersprachen.“
Betont langsam meinte Dr. Irving: „Wie ich von Ihrem Vetter höre, waren Sie schon vor dem Unfall in der Geschichte Napoleons ziemlich bewandert. Wie erklären Sie sich das?“
„Ich sagte schon, ich erkläre mir nichts von alledem. Aber ungeachtet dessen, was Charlie Doerr darüber sagte, kann ich diese Tatsache bestärken.
Anscheinend habe ich mich – als George Vine, sofern ich dieser jemals war – für Napoleon interessiert, eine Menge über ihn gelesen, einen Helden aus ihm gemacht und des öfteren eine Bemerkung über ihn fallen lassen. Jedenfalls oft genug, daß die Leute, mit denen George bei der Blade zusammenarbeitete, ihm den Spitznamen ,Nappi’ gaben.“
„Ich sehe, Sie ziehen zwischen sich und George Vine eine genaue Trennlinie. Sind Sie nun er oder nicht?“
„Drei Jahre lang war ich George Vine. Was die Zeit davor betrifft – ich kann mich nicht erinnern, ,er’ gewesen zu sein. Ich glaube nicht, daß ich ,er’ war. Ich glaube – das heißt, ich bin fest davon überzeugt, daß ich vor drei Jahren in George Vines Körper erwachte.“
„Nachdem Sie rund zweihundert Jahre was gemacht haben?“
„Keine Ahnung; wie sollte ich das wissen? Aber eines steht fest: dies hier ist George Vines Körper, und mit ihm erbte ich auch sein Wissen – alles bis auf seine persönlichen Erinnerungen. So wußte ich zum Beispiel, worin sein Job bei der Zeitung bestand. Ich wußte, wie ich mich anzustellen hatte, obwohl mir keiner von den Leuten bekannt war, mit denen ich dort zusammenarbeitete. Ich erbte sozusagen seine Englischkenntnisse und seine Fähigkeiten als Journalist. Ich wußte mit einer Schreibmaschine umzugehen. Mehr noch: Meine Handschrift ist identisch mit seiner.“
„Wenn Sie glauben, nicht George Vine zu sein – wie erklären Sie sich dann diese Umstände?“
Er beugte sich vor. „Ich glaube, ein Teil von mir ist George Vine und ein anderer nicht. Ich glaube, irgendeine Übertragung hat stattgefunden, die nicht auf normale Art und Weise erklärt werden kann … Das hat nicht unbedingt zu bedeuten, daß die Sache übernatürlich ist – wie auch nicht, daß ich verrückt bin. Oder doch ?“
Dr. Irving gab keine Antwort. Statt dessen fragte er: „Sie behielten dieses Geheimnis drei Jahre lang für sich – aus verständlichen Gründen. Jetzt aber entschlossen Sie sich – vermutlich aus anderen Gründen –, es zu lüften. Wie sehen diese anderen Gründe aus? Was hat Sie bewogen, Ihre Einstellung zu ändern?“
Es war die Frage, die ihm Sorgen gemacht hatte.
Langsam sagte er: „Es war, weil – weil ich nicht an Zufälle glaube. Weil sich etwas an der Situation selbst geändert
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