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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Zigeuner –»
    «Was?»
    «Was, was?»
    «Jüdische Zigeuner?»
    «Ja, Mann. Und Schwaben und Walachen –»
    «Gibt’s nicht.»
    «Was gibt’s nicht?»
    « Jüdische Zigeuner. Du erzählst einen Scheiß. Du erzählst die ganze Zeit Scheiß.»
    «Überhaupt nicht.»
    «Jüdische Zigeuner, das ist wie englische Franzosen! Das gibt’s nicht.»
    «Natürlich gibt’s keine englischen Franzosen», sagte Tschick. «Aber es gibt jüdische Franzosen. Und es gibt auch jüdische Zigeuner.»
    «Zigeunerjuden.»
    «Genau. Und die haben so ’n Dings auf dem Kopf und fahren in Russland rum und verkaufen Teppiche. Kennt man doch, die mit dem Dings auf dem Kopf. Kippe. Kippe auf dem Kopf.»
    «Kippe am Arsch. Ich glaub kein Wort.»
    «Kennst du nicht diesen Film mit Georges Aznavour?» Tschick wollte es mir jetzt wirklich beweisen.
    «Film ist Film», bügelte ich ihn ab. «Im richtigen Leben kannst du nur entweder Jude sein oder Zigeuner.»
    «Aber Zigeuner ist keine Religion, Mann. Jude ist Religion. Zigeuner ist einer ohne Wohnung.»
    «Die ohne Wohnung sind zufällig Berber.»
    «Berber sind Teppiche», sagte Tschick.
    Ich dachte lange nach, und als ich Tschick schließlich fragte, ob er wirklich jüdischer Zigeuner wäre und er ganz ernst nickte, da glaubte ich es ihm.
    Was ich aber nicht glaubte, war der Quatsch mit seinem Großvater. Da wusste ich eben, dass Walachei nur ein Wort war. Ich bewies Tschick auf hundert Arten, dass es die Walachei nicht gab, und ich spürte, wie meine Worte an Überzeugungskraft gewannen, wenn ich dazu ein paar großartige Gesten mit den Armen machte. Tschick machte die gleichen Gesten, und dann ging er nochmal Bier holen und fragte, ob ich auch noch eins wollte. Aber es hatte ja keine Wirkung auf mich, und ich wollte Cola.
    Gerührt sah ich einer Fliege zu, die auf dem Tisch rumkrabbelte. Ich hatte den Eindruck, dass auch die Fliege gerührt war, weil ich gerührt war. Ich hatte mich wirklich noch nie so gut unterhalten. Tschick stellte zwei Flaschen auf den Tisch und sagte: «Du wirst ja sehen. Mein Großvater und meine Großtante und zwei Cousins und vier Cousinen und die Cousinen schön wie Orchideen – du wirst ja sehen.»
    Tatsächlich fing der Gedanke langsam an, mich zu beschäftigen. Aber kaum war Tschick gegangen, lösten sich die Cousinen und alles andere in Nebel auf und verschwanden, und zurück blieb ein elendes Gefühl. Geradezu das heulende Elend. Das hatte mit Tschick aber nichts zu tun. Das hatte was mit Tatjana zu tun. Damit, dass ich überhaupt nicht wusste, was sie jetzt über mich dachte, und dass ich es vielleicht auch nie erfahren würde, und in diesem Moment hätte ich wirklich einiges dafür gegeben, in der Walachei zu sein oder sonst wo auf der Welt, nur nicht in Berlin.
    Bevor ich ins Bett ging, klappte ich nochmal meinen Rechner auf. Ich fand vier Mails von meinem Vater, der sich beschwerte, dass ich mein Handy ausgeschaltet hatte und auch unten nicht ranging, und ich musste mir noch irgendwelche Ausreden für ihn ausdenken und erklären, dass alles superokay war hier. Was es ja auch war. Und weil ich überhaupt keine Lust auf diese Mails hatte und mir nichts einfiel, tippte ich nebenbei noch bei Wikipedia «Walachei» ein. Und dann fing ich wirklich an, mir Gedanken zu machen.

19
    Die Nacht auf Sonntag. Vier Uhr, hatte Tschick gesagt, das wäre die beste Zeit. Vier Uhr nachts. Ich schlief so gut wie gar nicht, döste die halbe Nacht und war sofort hellwach, als ich Schritte auf unserer Terrasse hörte. Ich rannte zur Tür, und da stand Tschick mit einem Seesack in der Finsternis. Wir flüsterten, obwohl es eigentlich keinen Grund gab zu flüstern. Tschick stellte den Seesack in unseren Flur, und dann zogen wir los.
    Auf dem Rückweg von Werder hatte er den Lada wieder in der Straße abgestellt, wo er angeblich immer stand, das war nur zehn Minuten von unserem Haus. Direkt vor unseren Füßen lief ein Fuchs Richtung Stadtmitte. Ein Fahrzeug der Stadtreinigung zischte vorbei, eine Rentnerin mit Husten kam uns entgegen. Im Grunde fielen wir mehr auf, als wir bei Tag aufgefallen wären. Dreißig Meter vor dem Lada gab Tschick mir das Zeichen, stehen zu bleiben, und ich drückte mich in eine Hecke und spürte mein Herz schlagen. Tschick zog einen gelben Tennisball aus der Tasche. Er presste den Ball auf den Türgriff des Lada und schlug mit der flachen Hand dagegen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte, aber Tschick zischte: «Profis am

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