Tschick (German Edition)
ratlos er war. Aber er lief wie ein Irrer, mindestens noch drei Minuten lang, ohne zu merken, dass ich schon hinter ihm war. Auf einem freien Platz blieb er stehen. Ich riss die Shotgun hoch und ballerte ihm in den Rücken. Ein Feuerwerk aus Blut spritzte aus ihm raus, und er knallte hin und rührte sich nicht mehr. «Scheiße», sagte er, «wo bist du denn immer? Ich seh dich überhaupt nicht.» Ich wechselte zur Chain Gun, schändete seine Leiche und hüpfte ein bisschen im Kreis.
«Ist ja gut, ist ja gut. Ja, reagier dich ab. Mann.» Tschick drückte auf Neustart, aber es war aussichtslos. Er hatte überhaupt keinen Plan von dem Gelände. Man konnte stundenlang hinter ihm herlaufen, ohne dass er es merkte, und ich nietete ihn jedes Mal um wie blöd. Ich war so eine Art Weltmeister in Doom, und Tschick konnte wirklich gar nichts.
Er holte sich noch ein Bier.
«Und wenn wir einfach wegfahren?», fragte er.
«Was?»
«Urlaub machen. Wir haben doch nichts zu tun. Machen wir einfach Urlaub wie normale Leute.»
«Wovon redest du?»
«Der Lada und ab.»
«Das ist nicht ganz das, was normale Leute machen.»
«Aber könnten wir, oder?»
«Nee. Drück mal auf Start.»
«Warum denn nicht?»
«Nee.»
«Wenn ich dich krieg», sagte Tschick. «Sagen wir, wenn ich dich in fünf Runden einmal krieg. Oder in zehn Runden. Sagen wir zehn.»
«Du kriegst mich in hundert nicht.»
«In zehn.»
Er gab sich große Mühe. Ich steckte mir eine Handvoll Chips in den Mund, wartete, bis er die Kettensäge hatte, und ließ mich zerteilen.
«Im Ernst», sagte ich. «Nehmen wir mal an, wir machen das.»
Wir hatten fast den ganzen Tag rumgeballert. Wir waren zweimal im Pool gewesen. Tschick hatte mir von seinem Bruder erzählt, und dann hatte er das Bier im Kühlschrank entdeckt und sich drei Flaschen genehmigt. Ich hatte auch versucht, eins zu trinken. Ich hatte schon oft Bier probiert, aber geschmeckt hatte es mir nie, und es schmeckte mir auch jetzt nicht. Drei viertel der Flasche schaffte ich trotzdem. Aber es hatte keine Wirkung auf mich.
«Und wenn die uns verraten?»
«Die verraten uns nicht. Außerdem, wenn sie’s tun wollten, hätten sie’s längst getan und die Polizei wär hier. Die wissen ja nicht mal, dass der Lada geklaut war. Sie haben uns höchstens zehn Sekunden gesehen, die denken bestimmt, der gehört meinem Bruder oder so.»
«Wo willst du denn überhaupt hin?»
«Ist doch egal.»
«Wenn man wegfährt, wär irgendwie gut, wenn man weiß, wohin.»
«Wir könnten meine Verwandtschaft besuchen. Ich hab einen Großvater in der Walachei.»
«Und wo wohnt der?»
«Wie, wo wohnt der? In der Walachei.»
«Hier in der Nähe oder was?»
«Was?»
«Irgendwo da draußen?»
«Nicht irgendwo da draußen, Mann. In der Walachei.»
«Das ist doch dasselbe.»
«Was ist dasselbe?»
«Irgendwo da draußen und Walachei, das ist dasselbe.»
«Versteh ich nicht.»
«Das ist nur ein Wort , Mann», sagte ich und trank den Rest von meinem Bier. «Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder Jottwehdeh.»
«Meine Familie kommt von da.»
«Ich denk, du kommst aus Russland?»
«Ja, aber ein Teil kommt auch aus der Walachei. Mein Großvater. Und meine Großtante und mein Urgroßvater und – was ist daran so komisch?»
«Das ist, als hättest du einen Großvater in Jottwehdeh. Oder in Dingenskirchen.»
«Und was ist daran so komisch?»
«Jottwehdeh gibt’s nicht, Mann! Jottwehdeh heißt: janz weit draußen . Und die Walachei gibt’s auch nicht. Wenn du sagst, einer wohnt in der Walachei, dann heißt das: Er wohnt in der Pampa.»
«Und die Pampa gibt’s auch nicht?»
«Nein.»
«Aber mein Großvater wohnt da.»
«In der Pampa?»
«Du nervst, echt. Mein Großvater wohnt irgendwo am Arsch der Welt in einem Land, das Walachei heißt. Und da fahren wir morgen hin.»
Er war wieder ganz ernst geworden, und ich wurde auch ernst. «Ich kenn hundertfünfzig Länder der Welt mit Hauptstädten komplett», sagte ich und nahm einen Schluck aus Tschicks Bierflasche. «Walachei gibt’s nicht.»
«Mein Großvater ist cool. Der hat zwei Zigaretten im Ohr. Und nur noch einen Zahn. Ich war da, als ich fünf war oder so.»
«Was bist du denn jetzt eigentlich? Russe? Oder Walacheier oder was?»
«Deutscher. Ich hab ’n Pass.»
«Aber wo du herkommst.»
«Aus Rostow. Das ist Russland. Aber die Familie ist von überall. Wolgadeutsche. Volksdeutsche. Und Banater Schwaben, Walachen, jüdische
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