Tschick (German Edition)
Rentner gucken, die aus diesen Bussen quollen. Denn es waren ausschließlich Rentner. Sie trugen alle braune oder beige Kleidung und ein lächerliches Hütchen, und wenn sie an uns vorbeikamen, wo es eine kleine Steigung raufging, schnauften sie, als hätten sie einen Marathon hinter sich.
Ich konnte mir immer nicht vorstellen, dass ich selbst einmal so ein beiger Rentner werden würde. Dabei waren alle alten Männer, die ich kannte, beige Rentner. Und auch die Rentnerinnen waren so. Alle waren beige. Es fiel mir ungeheuer schwer, mir auszumalen, dass diese alten Frauen auch einmal jung gewesen sein mussten. Dass sie einmal so alt gewesen waren wie Tatjana und sich abends zurechtgemacht hatten und in Tanzlokale gegangen waren, wo man sie vermutlich als junge Feger oder so was bezeichnet hatte, vor fünfzig oder hundert Jahren. Nicht alle natürlich. Ein paar werden auch damals schon öde und hässlich gewesen sein. Aber auch die Öden und die Hässlichen haben mit ihrem Leben wahrscheinlich mal was vorgehabt, die hatten sicher auch Pläne für die Zukunft. Und auch die ganz Normalen hatten Pläne für die Zukunft, und was garantiert nicht in diesen Plänen stand, war, sich in beige Rentner zu verwandeln. Je länger ich über diese Alten nachdachte, die da aus den Bussen rauskamen, desto mehr deprimierte es mich. Am meisten deprimierte mich der Gedanke, dass unter diesen Rentnerinnen auch welche sein mussten, die nicht langweilig oder öde gewesen waren in ihrer Jugend. Die schön waren, die Jahrgangsschönsten, die, in die alle verliebt gewesen waren, und wo vor siebzig Jahren jemand auf seinem Indianerturm gesessen hat und aufgeregt war, wenn nur das Licht in ihrem Zimmer anging. Diese Mädchen waren jetzt auch beige Rentnerinnen, aber man konnte sie von den anderen beigen Rentnerinnen nicht mehr unterscheiden. Alle hatten sie die gleiche graue Haut und fette Nasen und Ohren, und das deprimierte mich so, dass mir fast schlecht wurde.
«Pst», sagte Tschick und schaute an mir vorbei. Ich folgte seinem Blick und entdeckte zwei Polizisten, die eine Reihe parkender Autos entlanggingen und auf jedes Nummernschild guckten. Wortlos nahmen wir unsere Pappbecher und schlenderten unauffällig zurück zu dem Gebüsch, wo der Lada parkte. Dann fuhren wir den Weg, den wir morgens gekommen waren, zurück und auf die Landstraße und mit hundert auf und davon. Wir mussten nicht lange darüber diskutieren, was als Nächstes zu tun wäre.
In einem Waldstück fanden wir einen Parkplatz, wo Leute ihre Autos abstellten, um spazieren zu gehen. Und es standen glücklicherweise ziemlich viele Autos dort, denn es war gar nicht so leicht, eins zu finden, wo man die Nummernschilder abschrauben konnte. Die meisten hatten überhaupt keine Schrauben. Was wir schließlich fanden, war ein alter VW Käfer mit Münchner Kennzeichen. Dem machten wir im Gegenzug unsere Kennzeichen an, in der Hoffnung, dass er’s nicht so schnell merken würde.
Dann rasten wir ein paar Kilometer auf irgendwelchen Schleichwegen durch die Felder, bevor wir in einen riesigen Wald einbogen und den Lada auf einem verlassenen Sägewerksgelände abstellten. Wir packten unsere Rucksäcke und wanderten durch den Wald.
Wir hatten nicht die Absicht, den Lada schon im Stich zu lassen, aber trotz Nummernschildwechsel war uns nicht ganz wohl bei der Sache. Es schien uns das Klügste, den Wagen erst mal eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Vielleicht ein, zwei Tage im Wald verbringen und später wieder vorbeigucken, das war der Plan. Wobei – ein richtiger Plan war das auch nicht. Wir wussten ja nicht mal, ob sie wirklich nach uns gesucht hatten. Und ob sie uns in ein paar Tagen nicht mehr suchen würden.
Unser Weg führte die ganze Zeit bergauf, und oben lichtete sich der Wald. Es gab eine kleine Aussichtsplattform mit einer Mauer drumrum und einen ziemlich tollen Blick über das Land. Aber das Tollste war ein kleiner Kiosk, wo man Wasser kaufen konnte und Schokoriegel und Eis. Da mussten wir also schon mal nicht verhungern, und deshalb blieben wir auch in der Nähe von diesem Kiosk. Nicht weit den Berg runter lag eine abschüssige Wiese, und da fanden wir einen stillen Platz hinter riesigen Holunderbüschen. Wir legten uns in die Sonne und dösten, und so verbrachten wir den Tag. Für die Nacht deckten wir uns noch mal mit ordentlich Snickers und Cola ein und krochen dann in unsere Schlafsäcke und hörten die Grillen zirpen. Den ganzen Tag über waren Wanderer,
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