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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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davor war aufzustehen. Tatsächlich stand sie in der Minute, wo wir uns unterhielten, zweimal halb auf, als würde sie gleich rübergehen und den Mann in den Schwitzkasten nehmen, aber dann setzte sie sich wieder. «Der Arzt ruft euch auf», sagte sie.
    Der Arzt ruft uns auf. So einfach war das also.
    Die Sprachtherapeutin war einigermaßen überrascht, dass ich die Sache mit der Krankenversicherung schon geregelt hatte, und guckte mich mit schiefgelegtem Kopf an.
    «Ich hab einfach meinen Namen gesagt», sagte ich.
    Sie setzte sich mit uns hin und wartete, dass wir drankamen. Wir sagten ihr zwar, das wäre nicht nötig, aber ich glaube, sie fühlte sich irgendwie schuldig. Stundenlang unterhielt sie sich mit uns über Sprachtherapie, über Computerspiele, über Filme, Mädchen und Autoknacken, und sie war wirklich wahnsinnig nett. Als wir ihr erzählten, wie wir versucht hatten, mit dem Lada unsere Namen in das Weizenfeld zu schreiben, kicherte sie die ganze Zeit. Und als wir erklärten, dass wir als Nächstes wahrscheinlich mit der Bahn zurück nach Berlin fahren würden, glaubte sie uns.
    Vor uns wurden immer wieder blutüberströmte Leute im Laufschritt am Empfang vorbeigeschoben. Und als es schon kurz vor Mitternacht war und wir immer noch nicht dran, verabschiedete die Frau sich dann doch von uns. Sie fragte noch mindestens hundert Mal, ob sie noch irgendwas für uns tun könnte, gab uns ihre Adresse, falls wir «Schadensersatzansprüche» oder so was anmelden wollten, zog ihr Portemonnaie raus und drückte uns zwei Hunderter für die Bahnfahrt in die Hand. Das war mir einigermaßen peinlich, aber ich wusste auch nicht, wie ich es ablehnen sollte. Und dann sagte sie zum Abschied noch etwas sehr Seltsames. Sie schaute uns an, und nachdem sie wirklich alles für uns getan hatte, was man tun konnte, sagte sie: «Ihr seht aus wie Kartoffeln.» Und dann ging sie. Drehte durch die Drehtür und war weg. Ich fand das wahnsinnig komisch. Und auch jetzt muss ich noch jedes Mal lachen, wenn mir das wieder einfällt: Ihr seht aus wie Kartoffeln. Ich weiß nicht, ob das einer versteht. Aber sie war wirklich die Netteste von allen.
    Schließlich durfte Tschick rein zum Arzt. Eine Minute später kam er wieder raus, und wir mussten rauf zum Röntgen. Ich wurde immer müder. Irgendwann döste ich auf dem Gang ein, und als ich wieder aufwachte, stand Tschick mit zwei Krücken und einem Gips vor mir. Ein richtiger Gips, nicht bloß so eine Plastikschiene.
    Eine Krankenschwester drückte ihm ein paar Schmerztabletten in die Hand und meinte, dass wir noch dableiben müssten, weil der Arzt sich den Fuß auch noch ansehen wollte. Und ich fragte mich, wer denn den Verband gemacht hatte, wenn nicht der Arzt. Der Hausmeister? Die Krankenschwester zeigte uns ein freies Zimmer, in das wir uns setzen konnten. In dem Zimmer standen zwei frischbezogene Betten.
    Es war jetzt keine sehr glückliche Stimmung mehr. Die Reise war zu Ende, auch wenn das außer uns noch keiner wusste, und wir fühlten uns ziemlich erbärmlich. Ich hatte überhaupt keine Lust, mit der Bahn irgendwohin zu fahren. Tschicks Schmerzmittel fingen erst langsam an zu wirken. Er legte sich stöhnend in ein Bett, und ich ging zum Fenster und guckte raus. Es war noch dunkel draußen, aber als ich die Nase auf die Scheibe drückte und die Hände rechts und links ans Gesicht hielt, sah ich doch schon den Morgen dämmern. Sah den Morgen dämmern und –
    Ich sagte Tschick, er sollte das Licht ausmachen. Er benutzte die Krücke als Fernbedienung. Gleich wurde die Landschaft deutlicher. Ich sah eine einsame Telekom-Säule in der Krankenhauseinfahrt. Ich sah einen einsamen Waschbetonkübel. Ich sah einen einsamen Zaun und ein Feld, einen Acker, und irgendwas an diesem Acker kam mir vertraut vor. Es wurde heller, und ich konnte auf der anderen Seite vom Acker drei Autos unterscheiden. Zwei Pkw, ein Kranlaster.
    «Du glaubst nicht, was ich sehe.»
    «Was siehst du denn?»
    «Ich weiß es nicht.»
    «Na komm!»
    «Guck’s dir an.»
    «Einen Scheiß guck ich mir an», sagte Tschick. Und nach einer Weile: «Was siehst du denn?»
    «Das musst du dir schon selbst ansehen.»
    Er stöhnte. Ich hörte, wie er mit den Krücken klapperte. Dann presste er sein Gesicht neben mir auf die Scheibe.
    «Das ist doch nicht wahr», sagte er.
    «Keine Ahnung», sagte ich.
    Wir starrten über den umgepflügten Acker hinaus, den wir vor wenigen Stunden noch von der anderen Seite gesehen hatten, mit dem

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