Tschick (German Edition)
weißen Klotz gegenüber. Jetzt standen wir in dem weißen Klotz. Die Sprachtherapeutin war eine fünf Kilometer große Schleife gefahren.
Die Sonne hatte es noch immer nicht über den Horizont geschafft, aber man konnte den schwarzlackierten Lada schon gut erkennen, in der Parkbucht neben der Autobahn. Er stand auf den Rädern. Jemand musste ihn umgedreht haben. Die Kofferraumklappe war offen. Drei Männer liefen um das Auto rum, standen beisammen, liefen wieder rum. Einer in Uniform, zwei im Blaumann, wenn ich das richtig erkennen konnte. Der Kran wurde über den Lada geschwenkt, einer befestigte Ketten an den Rädern. Die Uniform schloss den Kofferraum, öffnete ihn wieder und schloss ihn dann, um zum Kranlaster zu gehen. Dann gingen zwei wieder zum Lada. Dann ging einer wieder zum Laster.
«Was machen die denn da?», fragte Tschick.
«Siehst du das nicht?»
«Das mein ich nicht. Ich meine – was machen die denn da?»
Er hatte recht. Sie liefen immer hin und her und machten alles dreimal, und eigentlich machten sie gar nichts. Vielleicht Spurensuche oder so. Wir schauten uns das noch eine Weile an, und dann legte Tschick sich wieder stöhnend ins Bett und sagte: «Weck mich, wenn was passiert.» Aber es passierte nichts. Einer machte sich an den Ketten zu schaffen, einer ging zum Kran, einer rauchte.
Plötzlich verschwand das Bild, weil im Zimmer das Licht anging. In der Tür stand schnaufend der Arzt. Er sah völlig übermüdet aus. In seinem einen Nasenloch hing ein rötlich weißer Wattepfropfen bis fast zur Oberlippe. Langsam schlurfte er zu Tschicks Bett.
«Ma Bein da hoch», sagte er. Eine Stimme wie Zweiter Weltkrieg.
Tschick hielt ihm seinen Gips hin. Der Arzt rüttelte mit einer Hand am Gips, mit der anderen hielt er den Stopfen in seinem Nasenloch fest. Er grapschte ein Röntgenbild aus dem Umschlag, hielt es gegen das Licht, warf es neben Tschick aufs Bett und schlurfte wieder raus. In der Tür drehte er sich nochmal um. «Quetschung. Haarriss. Vierzehn Tage», sagte er. Dann verdrehte er plötzlich die Augen. Wie um Gleichgewicht bemüht, suchte seine Hüfte Halt am Türrahmen. Er atmete tief durch und sagte: «Nicht so schlimm. Vierzehn Tage Ruhe. Zu Hause Arzt konsultieren.» Er sah Tschick an, ob der ihn verstanden hätte, und Tschick nickte.
Der Arzt machte die Tür hinter sich zu – und riss sie zwei Sekunden später wieder auf, jetzt vergleichsweise hellwach. «Witz!», rief er, und sah uns freudig an. Erst Tschick, dann mich. «Was ist der Unterschied zwischen einem Arzt und einem Architekten oder so?»
Keiner wusste es. Er gab sich selbst die Antwort: «Der Arzt begräbt seine Fehler.»
«Hä?», sagte Tschick.
Der Mann winkte ab. «Wenn ihr geht, ich meine, wenn ihr müde seid, im Schwesternzimmer gibt’s Kaffee, könnt ihr euch holen. Mit dem guten Koffein.»
Er schloss erneut die Tür. Aber ich hatte keine Zeit, mich über den Mann zu wundern, weil ich sofort wieder ans Fenster stürzte. Tschick schaltete mit der Krücke das Licht aus, und ich kriegte gerade noch mit, wie das Polizeiauto auf die Autobahn fuhr. Der Abschleppkran war schon weg. Allein der Lada stand noch auf dem Parkplatz. Tschick wollte es nicht glauben.
«Kran kaputt oder was?»
«Keine Ahnung.»
«Dann jetzt oder nie.»
«Was?»
«Na, was?» Er rammte die Krücke gegen die Scheibe.
«Der fährt doch nicht mehr», sagte ich.
«Wieso denn nicht? Und wenn nicht, ist auch egal. Wir müssen wenigstens unsere Sachen rausholen. Wenn er nicht mehr fährt –»
«Der fährt nicht mehr.»
«Wenn wer nicht mehr fährt?», fragte die Krankenschwester und knipste das Licht wieder an. Sie hatte Tschicks oder Andrés Karteikarte in der einen und zwei Becher Kaffee in der anderen Hand.
«Du heißt André Langin», flüsterte ich und rieb mir die Augen, als sei ich vom Licht geblendet. Tschick sagte irgendwas von wegen, dass wir ja jetzt auch nach Hause kommen müssten – und das war leider genau der Grund, warum die Krankenschwester uns sprechen wollte.
40
Berlin wäre ja ein bisschen weit weg, meinte sie, und wo wir denn jetzt hinmüssten. Ich erklärte ihr, dass wir hier auf Besuch bei unserer Tante wären und alles kein Problem – und das hätte ich besser nicht gesagt. Die Krankenschwester fragte mich zwar nicht, wo diese Tante wohnte, aber dafür schleppte sie mich sofort ins Schwesternzimmer und stellte mich vor ein Telefon. Tschick verkniff sich den Schmerz, wedelte mit den Krücken und rief, wir
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