Tschick (German Edition)
völlig in seine Unterhaltung vertieft.
«Ich spreche mit dem Mund, wenn Sie das meinen.»
«Normal sprechen ist was anderes als eine tragfähige Stimme. Eine gute, tragfähige Stimme kommt von hier, aus dem Zentrum. Bei dir kommt sie von hier. Sie muss aber von hier kommen.» Beim letzten «hier» schlug sie sich zweimal unter die Brust, sodass es wie «hiejaja» klang.
«Von hiejaja?», sagte Tschick und haute sich ebenfalls unter die Brust.
«Du musst dir das vorstellen wie Sport. Der ganze Körper ist beteiligt. Das Zwerchfell, die Bauchmuskulatur, das Becken, das muss alles mit. Zwei Drittel kommt aus dem Zwerchfell, nur ein Drittel aus der Lunge.»
160 Stundenkilometer. Wenn das so weiterging, kriegten sie das Auto mit der Sprachtherapie noch zum Stillstand.
«Das Wichtigste ist, dass wir jetzt schnell ins Krankenhaus kommen», sagte ich.
«Geht schon», sagte Tschick. «Tut gar nicht mehr so weh.»
Ich vergrub den Kopf in den Händen.
«Wenn du von hier sprichst», sagte die Frau, «kriegst du nur so ein Krächzen raus. Da kommt die Luft aus dem Hals, so: Uch, uch . Es muss aber von hier kommen.» Sie öffnete den Mund zu einem O und hob mit beiden Händen einen unsichtbaren Schatz vor ihrem Bauch, wozu sie kurz das Lenkrad loslassen musste. Tschick griff ins Steuer.
«Von hier», sagte die Frau und rief: «UHH!»
Ich bekam es mit der Angst. Tschick guckte die Frau schmerzlich begeistert an. Ich versuchte erneut, ihm ein Zeichen zu geben, er verstand es nicht. Oder er beachtete es nicht. Oder der Geisteszustand der Frau war ansteckend. Der Tacho zeigte 140. Noch war die Polizei nicht zu sehen.
«UCHH! UCHH! UCHH!», machte die Frau.
«Uch! Uch!», machte Tschick.
«Zentrum nach unten», sagte die Frau und ging langsam wieder aufs Gas. «Der Mensch ist wie eine Zahnpastatube. Wenn du unten drückst, kommt oben was raus. – UCHH! UCHH!»
«Uch! Uch!», machte Tschick.
«Ja, besser. UUAAAAAACHHH!»
«Uaaaach!»
Und so ging das ungelogen, bis wir im Krankenhaus waren. Wir schleuderten die Autobahnausfahrt runter, bogen zweimal scharf rechts ab, und zwei Minuten später standen wir vor einem riesigen weißen Gebäude mitten in der Pampa. Von Polizei keine Spur.
«Eine ausgezeichnete Klinik», sagte die Frau.
«Ich hab keine Krankenversicherung», sagte Tschick.
Einen kurzen Moment lang wirkte die Frau entsetzt. Aber dann beugte sie sich über Tschick und hakte entschlossen die Tür für ihn auf. «Mach dir keine Sorgen. Ich hab’s gemacht, und ich zahl das natürlich. Oder meine Versicherung. Oder wie auch immer. Tapfer.»
39
In der Notaufnahme war ziemlich viel los. Es war Sonntagabend, und vor uns warteten mindestens zwanzig Leute. Direkt am Empfangstresen stand ein Mann in stone-washed Jeans und kotzte in einen Mülleimer, den er unterm Arm hielt, während seine andere Hand eine AOK-Karte über den Tresen schob.
«Warten Sie bitte draußen», sagte die Krankenschwester zu uns.
Tschick und ich setzten uns auf zwei freie Plastikstühle, und nachdem wir eine Weile gewartet hatten, ging die Sprachtherapeutin Getränke und Schokoriegel aus einem Automaten holen. Währenddessen wurden wir reingerufen. Tschick konnte nicht aufstehen mit seinem Fuß. Also ging ich vor und erklärte, was Sache war.
«Und wie heißt er?»
«Andrej.» Ich sprach es französisch aus. «André Langin.»
«Adresse?»
«Waldstraße 15, Berlin.»
«Wo versichert?»
«Dedeka.»
«Debeka oder was?»
«Ja, genau.» Debeka. Damit hatte André sich bei der Schuluntersuchung gebrüstet. Wie toll es wäre, privat versichert zu sein. Das Arschloch. Jetzt war ich natürlich froh darüber. Aber mir zitterte ein bisschen die Stimme. Hätte ich mal besser auch eine Sprachtherapie gemacht vorher.
Vor allem war ich aber aufgeregt, weil ich nicht wusste, was da noch für Fragen kommen würden. Ich hatte mich noch nie in einer Notaufnahme gemeldet.
«Geboren am?»
«Dreizehnter Juli 1996.» Ich hatte keine Ahnung, wann André Geburtstag hatte. Hoffte aber, dass sie es nicht so schnell überprüfen konnten.
«Und was hat er jetzt?»
«Ihm ist ein Feuerlöscher auf den Fuß gefallen. Und vielleicht ist auch was mit seinem Kopf. Er blutet da. Die Frau» – ich deutete auf die Sprachtherapeutin, die mit einem Armvoll Schokoriegel gerade den Gang runterkam – «kann das bestätigen.»
«Quatsch mir jetzt kein Ohr ab», sagte die Krankenschwester, die die ganze Zeit den Mann mit dem Mülleimer beobachtete und immer kurz
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