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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Dauerwelle auf dem Kopf und einen Feuerlöscher in der Hand. Vier bis fünf Fettringe schwabbelten über seiner Taille. Mit zwei Walzen, die unten aus dem Hosenanzug rausguckten, stampfte es durch das Gelände, kam vor dem umgedrehten Lada zum Stehen und riss den Feuerlöscher hoch.
    Nichts brannte.
    Ich schaute Tschick an, Tschick schaute mich an. Wir schauten die Frau an. Denn es war eine Frau und kein Flusspferd. Keiner sagte was, und ich weiß noch, dass ich dachte, dass aus diesem Feuerlöscher jetzt ein weißer Strahl rausschießen müsste, um uns unter einem Schaumberg zu begraben.
    Die Frau wartete noch eine Weile, dass das Auto explodierte, damit sie ihren Feuerlöscher einsetzen konnte, aber der Lada war im Todeskampf genauso müde, wie er zu Lebzeiten gewesen war. Unter der Motorhaube zischte es nur. Ein Hinterrad drehte sich, wurde langsamer und blieb stehen.
    «Ist euch was passiert?», fragte die Frau und guckte misstrauisch zur Kühlerhaube. Tschick tippte mit dem Finger gegen den Feuerlöscher. «Brennt’s?»
    «O mein Gott», sagte die Frau und ließ den Feuerlöscher sinken. «Ist euch was passiert?»
    «Nichts», sagte Tschick.
    «Bei dir auch alles klar?»
    Ich nickte.
    «Wo ist euer Vater? Oder eure Mutter? Wer ist denn gefahren?»
    «Ich bin gefahren», sagte Tschick.
    Die Frau schüttelte den Kopf, der aussah wie ihre Taille.
    «Ihr habt einfach das Auto von –»
    «Das Auto ist geklaut», sagte Tschick.
    Wenn der Arzt recht hatte, der mich später untersuchte, hatte ich zu dieser Zeit einen Schock. Bei einem Schock geht alles Blut in die Beine, und dadurch hat man kein Blut mehr im Kopf und tickt praktisch nicht mehr richtig. Hat jedenfalls der Arzt gesagt. Und er hat auch gesagt, dass das aus der Steinzeit ist, wo die Neandertaler durch den Wald gelaufen sind, und wenn dann plötzlich von rechts ein Mammut kam, kriegte man einen Schock, und mit dem vielen Blut in den Beinen konnte man besser weglaufen. Denken war da nicht so wichtig. Klingt merkwürdig, aber, wie gesagt, das hat der Arzt gesagt. Und vielleicht hatte Tschick also recht gehabt mit seinem Wegrennen, und ich hatte unrecht mit meinem Stehenbleiben, aber im Nachhinein ist man immer schlauer. Und vor uns stand die Frau mit dem Feuerlöscher und war ebenfalls geschockt. Weil, wenn ich einen Schock hatte und wenn Tschick auch einen Schock hatte, dann hatte die Frau mindestens fünf Schocks. Vielleicht reichte es schon, dass sie unseren Absturz beobachtet hatte oder dass Tschick ihr erzählte, dass das ein geklautes Auto war, aber sie zitterte wahnsinnig. Sie guckte Tschick an, zeigte auf einen Tropfen Blut, der an seinem Kinn runterlief, und sagte: «O mein Gott.» Dann fiel ihr der Feuerlöscher aus der Hand und auf Tschicks Fuß. Tschick kippte sofort rückwärts um. Er landete mit dem Rücken im Gras, hielt sein Bein senkrecht nach oben, griff mit den Händen danach und schrie.
    «O mein Gott!», rief die Frau noch einmal und kniete sich neben Tschick ins Gras.
    «Scheiße», sagte ich. Ich warf einen kurzen Blick den Steilhang rauf: Immer noch keine Polizei.
    «Ist er gebrochen?»
    «Woher soll ich das wissen?», schrie Tschick und rollte auf dem Rücken rum.

38
    Und das war jetzt die Lage: Da waren wir Hunderte Kilometer kreuz und quer durch Deutschland gefahren, auf Baustellengerüsten über den Abgrund gerollt und von Horst Fricke beschossen worden, wir waren eine Piste entlang- und einen Abhang runtergebrettert, hatten uns fünfmal überschlagen und alles mehr oder weniger ohne Schramme überstanden – und dann kam ein Flusspferd aus dem Gebüsch und zerstörte Tschicks Fuß mit einem Feuerlöscher.
    Wir beugten uns über den Fuß, wussten aber nicht, ob er gebrochen war oder nur verstaucht. Jedenfalls konnte Tschick nicht mehr auftreten.
    «Das tut mir unendlich leid!», sagte die Frau. Und es tat ihr unendlich leid, das konnte man sehen. Sie schien fast mehr Schmerzen zu haben als Tschick, jedenfalls dem Gesicht nach zu urteilen, und während in meinem Kopf immer noch vollkommene Leere herrschte und Tschick stöhnend hin- und herrollte, war die Frau die Erste, die die Situation langsam wieder unter Kontrolle kriegte. Sie fingerte nochmal an Tschicks Kinn rum, dann nahm sie seinen Unterschenkel hoch. «Aua, aua», sagte sie, während sie den Knöchel hin und her drehte und Tschick wimmerte.
    «Du musst ins Krankenhaus», war ihre Schlussfolgerung.
    «Warte», wollte ich sagen – da hatte das Flusspferd schon seine

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