TTB 104: 200 Millionen Jahre später
Palast zu entführen, zunichte gemacht. Wie sie dies bewerkstelligte, wurde mir gezeigt, und ...« Holroyd hielt inne. Er hob die Feder vom Papier und starrte nachdenklich den Satz an. Es war unwahr. Es war ihm nicht gezeigt worden. Es war ihm beschrieben worden. Er pfiff leise durch die Zähne und begann dann eilig zu schreiben. Nach einer halben Stunde bestand kein Zweifel mehr. Er kritzelte seine Schlußfolgerungen:
»Die Frau, die ich für L'Onee gehalten habe, ist natürlich Ineznia. Demgemäß muß alles, was mir sowohl von der Tempelprinzessin als auch von Moora, dem Bauernmädchen, und von Marschall Nands Frau erzählt wurde, als verzerrte Version oder gar als genaues Gegenteil der Wahrheit betrachtet werden. Die hagere Frau, die mich zu töten versuchte, die das Sprechen so schwierig fand, und die mir den Ring gab, war die wirkliche L'Onee.«
Holroyd lehnte sich zurück und blickte die geschriebenen Worte an. Die Wirkung des Schocks verstärkte sich und eine Flut von tausend Fragen brach über ihn herein. Alles konzentrierte sich auf die eine große Überlegung: Was bezweckte sie mit alldem, was sie getan hatte?
Darauf konnte es nur eine Antwort geben. Freiwillig hätte sie ihm keinen Hinweis darauf gegeben. Das, was sie unternommen hatte, hatte sie getan, weil sie mußte. Ptath war alles andere als ein Narr und hatte seine Vorkehrungen getroffen, bevor er mit der Rasse eins wurde. Er hatte Schutzmaßnahmen zurückgelassen, die seine Wiederkunft sichern sollten. Holroyd zählte sie eine nach der anderen auf:
»Erstens: Hervorrufung einer früheren Persönlichkeit – menschlich, vermutlich. Die Persönlichkeit erwies sich als Peter Holroyd.« Er zögerte und setzte dann hinzu: »Es ist kaum vorstellbar, daß eine derart verwirrende Hervorrufung für Ptath wünschenswert gewesen sein kann. Doch nennen wir es die erste Schutzmaßnahme.
Zweitens: Das Reich der Dunkelheit mußte gezeigt werden. Drittens: Ein Gebetsstab in Tätigkeit. Viertens: Eine Reise des Geistes, mit der eigenartigen Enthüllung, daß die Göttin nicht über den Fluß aus kochendem Schlamm in Nushirvan eindringen kann und daß der Fluß den dichtest besiedelten Teil des Geächtetenstaates wie ein Burggraben umringt. Fünftens ...«
Holroyd zögerte bei der fünften Schutzmaßnahme. Das Unverständlichere hieran war das Wie. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß Ineznia es als wichtig und unerläßlich angesehen hatte. In der kleinen Hütte hatte sie versucht, ihn dazu zu veranlassen, sich mit dem Bauernmädchen Moora in ein Schäferstündchen einzulassen. Holroyd runzelte die Stirn, doch schließlich schien es ihm, daß er eine einleuchtende, wenn auch nicht ganz klare Erklärung hatte.
Sex war das große Fundamentale. In einer Welt, wo die seltsame und schreckliche Entdeckung gemacht worden war, daß eine Frau, die von Männern in einem gewissen unveränderlichen Ritual angebetet wurde, tatsächlich in Wirklichkeit eine Göttin wurde (oder ein Mann ein Gott, wenn er von Frauen verehrt wurde) – in solch einer Welt mußte Sex in einem innigen Verhältnis zu der unendlich viel größeren organischen Kraft stehen, die eine Nation von vierundfünfzig Milliarden Seelen versklavte. Der schreckliche Trieb des Menschen, Helden, Königen und nicht existierenden Göttern zu huldigen, hatte endlich wirkliche Göttlichkeit erzeugt.
»Die sechste Schutzmaßnahme«, schrieb Holroyd, »muß irgendwie mit jener Namensliste von Hinrichtungen zu tun haben. Die Göttin hätte niemals so energisch darauf bestanden, daß ich diese Liste unterschreibe, wenn sie nicht damit in Verbindung stünde.«
Er grübelte mit gefurchten Brauen. Der Schock der Erkenntnis traf ihn mit der Plötzlichkeit eines Blitzschlages. Wie ein Irrsinniger schoß er in die Höhe und rannte in den angrenzenden Wohnraum mit den hohen Fenstern. Das Buch lag noch immer auf dem Tisch. Er schlug es auf und blätterte rasch zu den L's. Dort fand er den verbliebenen Teil der herausgerissenen Seite. Der letzte Name auf der vorherigen Seite lautete Lin'ra; der oberste Name auf dem Blatt, das direkt nach der herausgerissenen Seite kam, war Lotibar.
Es konnte kein Zweifel mehr bestehen. Er hatte L'Onees Todesurteil unterzeichnet. Er richtete sich auf und versuchte, die volle Tragweite seines tragischen Fehlers in Gedanken zu erkennen. Glücklicherweise blieb ein gutes Stück Hoffnung übrig. Gott sei Dank, dachte er, daß sein Widerstand Ineznia veranlaßt hatte, die Hinrichtungen um
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