TTB 104: 200 Millionen Jahre später
sechs Monate zu verschieben.
Nach und nach stellte sich die Erkenntnis ein, daß es noch weitere Hoffnungsschimmer gab. Er hatte noch nicht im Gottesthron gesessen; und eine andere Sache, die noch nicht zu Ineznias Zufriedenheit ausgefallen war, mußte mit dem Fluß aus kochendem Schlamm zu tun haben. Und wie stand es mit dem Angriff auf Nushirvan?
Ein Klopfen an der Tür unterbrach den immer rascher werdenden Strom der Gedanken. Es war ein weiblicher Wachsoldat, der sagte:
»Marschall Gara sendet Euch seine Empfehlungen und möchte Euch davon in Kenntnis setzen, daß der Generalstab bereit ist, zur nushirvanischen Front aufzubrechen.«
Holroyd, der sich darüber im klaren war, daß er sich im Labyrinth der Palastgänge mit Gewißheit verlaufen würde, sagte, was er sich vorher sorgfältig zurechtgelegt hatte:
»Sorge dafür, daß mich eine Eskorte zum Treffpunkt begleitet, von dem wir aufbrechen. Ich werde gleich kommen.«
Er kehrte eilig ins Schreibzimmer zurück, riß die engbeschriebenen Papierblätter in kleine Fetzen und stand dann einen Moment lang nachdenklich, bemüht, einen klaren Gedanken zu fassen. Langsam übernahm sein Verstand kalt und hart wieder die Führung. Er schritt zum Schränkchen neben dem Tisch, nahm den Ring heraus, der Ineznias Vorhaben kurzzeitig zunichte gemacht hatte, streifte ihn über und ging dann ins Wohnzimmer, um das große, schwere Buch mit den Namenslisten der Rebellen an sich zu nehmen. Möglicherweise konnte es von Nutzen sein.
Seine Zielstrebigkeit wurde konzentrierter, tödlicher. Der alte Ptath konnte nicht so ein Narr gewesen sein, nicht mit Verschwörern und Ränkeschmieden zu rechnen. Mit Sicherheit hatte er solchen Personen Fallen gesetzt. Deshalb blieb ihm nichts übrig, als wie bisher weiterzumachen, bis weitere Entwicklungen einen besseren Plan ratsam machten. Angriff auf Nushirvan; Eroberung des sogenannten Gottsessels, und nicht unbedingt darin sitzen. Doch selbst dies würde er tun, wenn sich vorher kein anderer Weg von sich aus zeigte. Die Zeit war kurz, und reine Vorsicht hatte noch niemals eine Schlacht gewonnen. Überdies: was konnte er sonst tun?
14.
Das Bächlein sprudelte und plätscherte. L'Onee saß im Gras daneben und kämmte ihr Haar. Sie hatte die Kleider abgelegt, und die lange, hagere Form des einstmals toten Körpers glänzte braun und weiß in der Sonne. L'Onee unterbrach ihr Tun und beugte sich über den Uferrand, um ihr Spiegelbild im Wasser zu betrachten. Und sie lächelte wohlgefällig.
Nach einer Woche sorgfältig bemessenen Sonnenbadens begann der Körper, den sie übernommen hatte, eigenes Leben zu zeigen. Das Haar, das so unermüdlich gebürstet und gekämmt worden war, glänzte mit dunklem, seidigem Schimmer zu ihr herauf. Die grünen Augen hatten ihren starren Ausdruck verloren; der Wasserspiegel reflektierte sie wie zwei sanft leuchtende Smaragde. Das Gesicht ... L'Onee seufzte. Sie hatte ihr möglichstes mit dem Gesicht getan, aber es war nicht genug gewesen. Lang, uninteressant und mit starken Backenknochen starrte es ihr aus dem Wasser entgegen.
Sie sah noch immer ihr Spiegelbild an, als sie plötzlich die zunehmende Gegenwart fühlte. Sie blickte auf. Drei Meter entfernt leuchtete ein blauer Blitz auf, gefolgt von einem undefinierbaren Lichtgebilde, das schnell rotierte. Die Erscheinung nahm leuchtende Farben an und wurde spindelförmig. Und dann entstand daraus, aus dem Nichts, der lebende Körper der Göttin Ineznia. Die kleine, schimmernde, nackte Figur schien einen Moment lang zu schweben, während sie vollends materialisierte; dann warf sie sich halb fallend in das Wasser.
Ohne sich sonderlich zu beeilen, watete Ineznia zum Ufer des seichten Teiches. Unter L'Onees neugierigem Blick erkletterte sie die Uferbank und setzte sich zwei Meter entfernt ins Gras. Ineznia schwieg einen Moment und sagte dann: »Du hältst es wohl für sehr klug, daß du ihm den Ring der Kraft gegeben hast.«
L'Onee zuckte die Achseln. Eine Antwort war hier unnötig. Sie betrachtete das ernste Gesicht der anderen aufmerksam. Ein feiner Schimmer von Triumph schien sich in dem sonst undurchdringlichen Ausdruck widerzuspiegeln. L'Onee sagte langsam:
»Er hat also mein Todesurteil unterzeichnet! Doch kann es kaum heute sein, denn das hätte ich im Moment deiner Materialisierung erfahren. Wie lange habe ich noch zu leben, Ineznia, Liebling?«
Der feierlich-ernste Ausdruck auf Ineznias Gesicht verschwand, und unter Gelächter sagte sie: »Du
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