TTB 104: 200 Millionen Jahre später
deine Zunge ist gelähmt, dein Mund versiegelt. Du weißt, was ich meine, wenn ich das Schlüsselwort Accadistran erwähne.«
L'Onee fuhr in loderndem Zorn hoch: »Du Teufel! Du unvorstellbare Mörderin!«
Elfenhaftes Gelächter klang harmonisch über die Lichtung und durchschnitt ihre Worte. Das Lachen verstummte jäh, auf eine Weise, die keinen Zweifel an der Humorlosigkeit und Kälte von Geist und Seele dahinter lassen konnte. Ineznia sagte ausdruckslos: »Wie sentimental sind wir doch! Was spielt es schon für eine Rolle, ob ein Menschenwesen ein paar Jahre vor seiner Zeit stirbt?«
Sie ließ sich rücklings ins Gras fallen und versank in Gedanken. Ihre Augen sahen L'Onees Skreer zu, der wie ein großer Fischvogel am Bach stand und mit seinem langen Schnabel immer wieder ins Wasser fuhr. Jedesmal förderte er einen dicken, weißbauchigen Fisch zutage.
Es schien L'Onee, daß sie beinahe die Gedanken hinter Ineznias starrem Blick lesen konnte. Einen Moment später wurde es klar, daß die Göttin die Fruchtlosigkeit jedes Versuchs, L'Onees Kontrolle über das Tier zu durchbrechen, eingesehen hatte, denn sie seufzte und wandte den Kopf ab. Dann sagte sie:
»Schade, daß Ptath seinen Vortrag schon jetzt gehalten hat und nicht später, nachdem er Rebellenoffiziere auf hohe Kommandostellen gesetzt hat. Ich bin sicher, daß seine ernsthafte Art, seine unendliche Selbstsicherheit und die Klugheit seiner Worte selbst ihr Mißtrauen aufgelöst hätten. Ich muß zugeben, es hat selbst mich überrascht, mit welcher Unverfrorenheit er das Kommando über eine solch riesenhafte Armee übernommen hat.« Sie blickte nachdenklich auf und sagte: »Ich bezweifle, daß der Mensch Holroyd sich darüber im klaren ist, daß nur ein Halb-Ptath so viel Macht übernehmen konnte, wie er es getan hat. Doch ist es jetzt bedeutungslos, nachdem die Rebellen auf meinen kleinen Trick hereingefallen sind.«
Sie verstummte und lächelte mit einem derart übermütigen Vergnügen, daß L'Onee sie verwundert ansah.
»Trick?« echote sie forschend.
Ineznias volle Stimme jauchzte förmlich vor Triumph, als sie fortfuhr: »Gestern führte er Rebellenoffiziere und Künstler, auf Skreers reitend, in einem Luftaufklärungsunternehmen an. Heute morgen ist er mit einer anderen Gruppe auf Grimbs aufgebrochen, um die gleiche Gegend mit Hilfe der gestern gezeichneten Karten in Augenschein zu nehmen.«
»Ich verstehe aber nicht, was ...«, begann L'Onee ratlos.
»Du wirst verstehen, meine Liebe«, entgegnete die Göttin sanft, »wenn ich dir sage, daß ich vor zwei Tagen dem Rebellengeneral – jetzt Marschall – Maarik ein Dokument in die Hände gespielt habe, das scheinbar von Ineznio an mich gerichtet ist und feststellt, daß die gesamte Invasion ein Trick ist, um die Rebellen zu vernichten.«
Sie erhob sich lässig, und die Bewegung ließ ihr Haar feurig-golden in der Sonne blitzen. »Heute vormittag«, sagte sie, »werden die Rebellen daraufhin handeln. Und als Resultat wird mein Vorhaben – den sechsten Bann zu brechen – heute ausgeführt. Noch heute abend wird der Götterthron in meinem Besitz sein. Der Grund, warum ich so schnell handelte, war deine Flucht. Mit der Kraft, die ich dir geben mußte, stelltest du ein Hindernis dar, womit ich kein Risiko eingehen wollte. Leb wohl, Kindchen.« Sie stieg ins Wasser – und verschwand.
Einen langen Moment blickte L'Onee bitter auf die Stelle, an der sie verschwunden war. Die Woche, die sie zu nichts anderem benutzt hatte, als diesem halbtoten Körper Zeit zu geben, lebendiger zu werden, erwies sich also damit als verhängnisvoll. Sie begann sich langsam anzukleiden. Es war schwer, zu bestimmen, was sie statt dessen hätte tun sollen. Sie hatte damit gerechnet, daß die Vorbereitungen der nushirvanischen Kampagne längere Zeit in Anspruch nehmen würden. Nun galt es, ihren eigenen, halbgeborenen Plan, Ptath bei seinem Lernprozeß zu helfen, zu beschleunigen und irgendwie an die neue Situation anzupassen.
Es war offensichtlich, was sie zunächst tun mußte. Sie mußte Ptath finden. Wo immer er sich im Augenblick auch befand: sie mußte ihn aufsuchen. Sein Hauptquartier würde sich wahrscheinlich in der zentralgelegenen Hügellandschaft gegenüber der Stadt Drei von Nushirvan befinden. Irgendwo in jener endlosen Weite von Tälern und aufragenden Bergen mußte Ptath zu finden sein – und er brauchte Hilfe. Sie zog die Sandalen an, befahl den Skreer zu sich und flog eine Minute später nach
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