TTB 119: Computer der Unsterblichkeit
in unverantwortlicher Weise mißbraucht hatte. Weil die beiden Konzepte einander widersprachen, wußte Hoskins nie recht, wie er sich Joe gegenüber verhalten sollte. Beide Professoren retteten sich schließlich in eine innere Distanz, indem sie sich sagten, daß es sie nichts angehe. Und darin stimmte Joe mit ihnen überein.
Aber er machte sich Sorgen um Mables Reaktion. Er selbst war mit dem telepathischen Vermögen aufgewachsen, die Gedanken und Empfindungen anderer zu lesen und mitzufühlen. Er hatte seine Gabe stets als einen normalen Bestandteil seines Lebens gesehen.
Aber Mables telepathisches »Sehvermögen« war neu und unvermittelt, und was sie dadurch erlebte, erfüllte sie abwechselnd mit Vergnügen und Entsetzen. Joe gab sich viel Mühe, sie zu besänftigen, zu trösten und die Schocks abzuwehren oder doch wenigstens zu mildern. Das Fotografiertwerden war ihr eine Qual gewesen. Sie war unfähig zu verstehen, warum der Mensch sich solche Dinge auferlegte. Es war ihr völlig unmöglich, sich einer Gesellschaft anzupassen, die es den Psychopathen und krankhaft Ehrgeizigen erlaubte, Moralgesetze und Sittenlehren aufzustellen, deren Resultat die seelische Massenverkrüppelung der gesamten menschlichen Rasse war.
Nach der Sitzung mit den Fotografen flüchtete sie in ihr Zimmer, wo sie gegen schockierende Kontakte abgeschirmt war, und wo sie sich mit Joes Hilfe allmählich an die Welt gewöhnte, in der sie jetzt lebte. Sie begann die Dinge zu sehen, die Joe ihr zeigte – die großartigen Leistungen, die der Mensch vollbracht hatte, seinen Mut, die Kraft seines unablässig an der Überwindung des Unterbewußten arbeitenden Verstandes.
Sie schlief viel, und in ihren wachen Stunden überdachte sie die vielen Dinge, die sie gelernt hatte und immer noch lernte. An Besuchern empfing sie in diesen ersten Tagen nur Billings und Carney, denn selbst diese Männer, die ihr mit aufrichtiger Freundlichkeit und größter Rücksichtnahme begegneten, ermüdeten sie rasch.
Beim gemeinsamen Abendessen machte Joe die beunruhigende Erfahrung, daß Billings die Ansichten der Journalisten und Radiokommentatoren teilte. »Für mich«, sagte Billings, »liegt die wahre Bedeutung dieser Entwicklung darin, daß der Mensch nun nicht mehr von dem Bewußtsein bedrückt sein wird, daß sein Lebenswerk, seine Erfahrungen und seine Arbeit mit dem Tode ausgelöscht werden. Stellen Sie sich vor, welchen unschätzbaren Gewinn die Menschheit dadurch haben wird, daß ihr die erfahrenen und hochgebildeten Männer des Geistes auf immer erhalten bleiben.«
Joe schloß die Augen, um seine Bestürzung und seinen Kummer zu verbergen. Jetzt wußte er, daß Billings noch nicht reif für Bossy war. Glaubte Billings wirklich an das, was er sagte? Oder bildete er es sich nur ein?
Oder war seine eigene Vorstellung falsch? Joe wußte es nicht. Wer war er, Joe Carter, daß er Bedingungen für die Zellerneuerung aufstellen konnte? Er glaubte eine Voraussetzung erkannt zu haben, die von den anderen offenbar übersehen wurde, aber wie konnte er dessen sicher sein?
Sie beendeten ihr Essen schweigend. Billings stand bald auf und ging. Er tat es zögernd, denn er fühlte das Verlangen, eine kleine Abschiedsrede zu halten, und suchte nach einer passenden beiläufigen und doch bedeutungsvollen Bemerkung.
Hoskins ging noch einmal zu Bossy, die am Nachmittag im Hörsaal aufgestellt worden war. Morgen sollte das wirkliche Debüt der Maschine sein, die seine Freude und sein Stolz war.
Steve Flynn war wahrscheinlich der einzige aus dem Kreis der Eingeweihten, der in der folgenden Nacht ruhig und unbekümmert schlief.
Das Frühstück mit Billings, Hoskins, Carney, Joe und Mable war noch nicht halb beendet, als Steve Flynn hereingestürzt kam, mit Energie und Tatendrang bis zum Platzen erfüllt. Mable konnte ihn nur einige Minuten ertragen. Sie versprach ihm, daß sie vor den versammelten Wissenschaftlern aus aller Welt erscheinen werde, doch dann mußte sie den Raum verlassen, um sich durch Ausruhen auf die Anstrengung vorzubereiten.
Nun lernte sie in der Realität kennen, was Joe ihr gesagt hatte: daß ein Telepath einen Grad von Kraft und Mut erreichen muß, wie er dem normalen Menschen selten abverlangt wird; daß es manchmal übermenschliche Ausdauer und Anstrengung erfordert, mit gewissen »normalen« Menschen in einem Raum beisammen zu sein; daß man dafür trainieren mußte, wie ein Langstreckenläufer oder -schwimmer trainierte.
Flynns Blick folgte ihr
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