Tür ins Dunkel
Brideshead Revisited: ein dreistöckiger Ziegel-bau mit Ecksteinen und Fensterstürzen aus Granit, mitschwarzem Schieferdach und vielen Giebeln, mit mehreren Seitenflügeln und einer Freitreppe, die zu einer Säulenhalle führte. Die schweren Eichentüren mußten mindestens einem großen Baum oder zwei kleineren das Leben gekostet haben. Dan parkte neben einem Marmorbrunnen in der Mitte des kreisförmigen Teils der Auffahrt. Der Springbrunnen war nicht in Betrieb, aber er hätte sich trotzdem hervorragend als Hintergrund für eine Liebesszene mit Cary Grant und Audrey Hepburn geeignet. Dan stieg die Treppe hinauf, und ein Türflügel öffnete sich, noch bevor er nach einer Klingel Ausschau halten konnte. Er begriff, daß der Torwächter angerufen und ihn angekündigt haben mußte. Die Eingangshalle war so groß, daß Dan sich vorstellen konnte, hier mit Frau und zwei Kindern gemütlich zu wohnen, ohne sich beengt zu fühlen.
Ein Diener mit britischem Akzent, nicht so förmlich gekleidet wie die Butler in Filmen, sondern in einem grauen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte, nahm Dan den nassen Mantel ab und war höflich genug, keinen abschätzigen Blick auf Dans feuchte und zerknitterte Kleidune zu werfen. »Mr. Boothe erwartet Sie in der Bibliothek«, sagte er. Dans Uhr zeigte 15.55 Uhr an. Die Suche nach der Wanze hatte dafür gesorgt, daß er nicht zu früh gekommen war. Ihn packte wieder die Angst, daß eine Zeitbombe tickte, daß jede Sekunde zählte, Der Butler führte ihn durch mehrere große stille Räume, einer exquisiter eingerichtet als der andere, mit herrlichen Holzdecken, die so aussahen, als seien sie von alten europäischen Herrensitzen importiert worden, und mit handgeschnitzten Türpfosten. Antike persische und chinesische Teppiche lagen auf dem Boden, und an den Wänden hingen Gemälde aller Meister des Impressionismus - und es waren weder Kopien noch Drucke. Es war ein ehrfurchtgebietender Wohnsitz, der von geradezu märchenhaftem Reichtum zeugte, doch auf Dan wirkte er eher beklemmend. Während er dem Butler durch die paradiesischen Räumlichkeiten folgte, überkam ihn immer stärker das Gefühl, als schlummerten hinter den Mauern und unter den Fußböden irgendwelche mächtigen dunklen Mächte mit bösen Absichten. Trotz des erlesenen Geschmacks und der unerschöpflichen Mittel, die in diesen Bau investiert worden waren, trotz seiner gewaltigen Ausmaße - oder vielleicht teilweise gerade wegen dieser übertriebenen Ausmaße - hatte er etwas von der düsteren Atmosphäre einer mittelalterlichen Festung an sich. Außerdem drängte sich Dan in immer stärkerem Maße die Frage auf, wie Palmer Boothe, der in diesen palastartigen Räumen residierte und offenbar einen exquisiten Geschmack hatte, gleichzeitig fähig sein konnte, ein kleines Mädchen den Qualen im grauen Zimmer auszusetzen. Dazu bedurfte es einer geradezu gespaltenen Persönlichkeit. Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Der hochangesehene Verleger, der nachts mit einem als Spazierstock getarnten Knüppel durch die Straßen schleicht. Der Butler öffnete die schwere getäfelte Tür zur Bibliothek, meldete Dan und zog sich geräuschlos zurück. Der Raum war gut sechs Meter hoch. Die reich getäfelte Eichendecke wölbte sich kuppelartig über den drei Meter hohen Eichenregalen mit unzähligen Büchern, an die man zum Teil nur mit Hilfe einer Rolleiter herankam. Drei ganze Wände waren mit Büchern gefüllt, an der vierten gaben riesige Fenster den Blick auf prächtige Gärten frei, da die schweren grünen Vorhänge nur zur Hälfte zugezogen waren. Chinesische Teppiche lagen auf dem glänzenden Eichenboden, und es gab mehrere Sitzgruppen aus dick gepolsterten Lehnstühlen und kleinen Tischen, Auf einem Schreibtisch, der fast die Ausmaße eines Bettes hatte, stand eine Tiffany-Lampe von so erlesener Form und Farbkomposition, daß sie nicht aus Glas, sondern aus kostbaren Edelsteinen zu bestehen schien. Palmer Boothe kam hinter diesem Schreibtisch hervor, um seinen Besucher zu begrüßen. Boothe war über 1,80 m groß, hatte breite Schultern und schmale Hüften. Er mußte Mitte oder Ende Fünfzig sein, wirkte aber jünger. Sein Gesicht war zu hager und langgezogen, als daß man ihn als attraktiv hätte bezeichnen können, aber die schmalen Lippen und die dünne gerade Nase verliehen ihm etwas Asketisches und unleugbar Distinguiertes. Er streckte Dan seine Hand entge gen: »Lieutenant Haldane, ich freue mich sehr, daß Sie kommen konnten.« Bevor
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