Tür ins Dunkel
und paßte jetzt besser zu den graumelierten Haaren. Während er in die Straße einbog, wunderte sich Dan, daß Seames ihn so einfach hatte gehen lassen. Schließlich stand für das FBI sehr viel auf dem Spiel; Acht Menschen waren tot, und möglicherweise war sogar die nationale Sicherheit gefährdet. Seames hätte Dan ohne weiteres festnehmen können, ja es wäre geradezu seine Pflicht gewesen, Dan festzunehmen. Dan war natürlich erleichtert, daß es nicht so weit gekommen war, denn jetzt kam es mehr denn je darauf an, daß er sich so schnell wie möglich mit Boothe unterhielt. Wenn Melanies Leben bisher an einer Schnur gehangen hatte, so hing es jetzt an einem Faden, und die Zeit sägte wie eine scharfe Rasierklinge an diesem dünnen Faden. Delmar, Carrie, Cindy Lakey... Nein! Diesmal nicht! Er würde diese Frau und dieses Kind retten. Er würde diesmal nicht versagen. Er fuhr durch Westwood in Richtung Westwood Boulevard, auf dem er den Sunset Boulevard und danach Bei Air erreichen würde. Er würde etwas vor 16 Uhr bei Boothe sein, aber vielleicht würde auch der Verleger früher nach Hause kommen. Erst nach drei Blocks dämmerte es ihm, daß Seames höchstwahrscheinlich eine Wanze an seinen Wagen montiert hatte, während er das Protokoll angefertigt hatte. Deshalb hatte der FBI-Agent ihn auch nicht aufzuhalten versucht. Er hatte erkannt, daß sie Dan nur zu folgen brauchten, um an Laura und Melanie McCaffrey heranzukommen. Als eine Ampel auf Rot schaltete, bremste Dan und schaute wiederholt in den Rückspiegel. Es herrschte ein lebhafter Verkehr, und es würde äußerst schwierig und zeitraubend sein, seine Verfolger ausfindig zu machen. Er hatte aber keine Zeit zu verlieren. Außerdem brauchten seine Verfolger nicht einmal in Sichtweite zu sein, denn sie konnten seinen Weg auf einem Monitor verfolgen, Er mußte sie abhängen. Er war im Augenblick zwar nicht unterwegs zu den McCaffreys, aber er wollte auch nicht beschattet werden, wenn er zu Boothes Domizil fuhr. Die Anwesenheit von FBI-Agenten würde Boothe gewiß nicht ermutigen auszupacken. Und außerdem wollte Dan nicht, daß jemand hörte, was Boothe zu sagen hatte. Denn falls Melanie wie durch ein Wunder überleben sollte, würden Boothes Aussagen gegen sie verwendet werden, und dann hätte sie überhaupt keine Chance mehr, jemals ein normales Leben führen zu können. Im Moment bestand für sie zumindest noch ein schwacher Hoffnungsfunke, und es war Dans Aufgabe, diesen Funken Hoffnung zu erhalten und zu versuchen, ihn zur Flamme zu entfachen. Die Ampel schaltete auf Grün. Dan zögerte. Er wußte nicht so recht, welche Richtung er einschlagen sollte, was er tun sollte, um seine Verfolger abzuschütteln. Delmar, Carrie, Cindy Lakey...
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte rasendes Herzklopfen. Das leise Ticken seiner Uhr, sein Herzklopfen und das Trommeln des Regens auf dem Wagendach verschmolzen zu einem einzigen bedrohlichen Geräusch, und er hatte das Gefühl, als wäre die ganze Welt eine Zeitbombe, die jeden Moment explodieren konnte.
Melanies Augen folgten dem Geschehen auf der Le inwand. Sie saß völlig regungslos da und gab keinen Laut von sich, aber ihre Pupillen bewegten sich, und das war ein gutes Zeichen. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie nur einige wenige Male -und auch dann nur kurze Zeit - ihren Blick auf etwas in dieser Welt gerichtet. Jetzt aber waren ihre Augen schon fast seit einer Stunde in Bewegung. Ob sie nun dem Inhalt des Films folgen konnte oder nur von den Bildern fasziniert war, spielte keine Rolle. Wichtig war nur, daß die Musik, die .Farben und Spielbergs Kunst - seine eindrucksvollen Szenen, die archetypischen Charaktere und die kühne Kameraführung - etwas Erstaunliches bewirkt hatten, nämlich das Kind allmählich aus seinem selbstgeschaffenen psychischen Exil hervorzulocken. Laura wußte, daß das keine wundersame spontane Heilung bedeutete, kein endgültiges Ablegen des Autismus, aber es war immerhin ein bescheidener Anfang. Außerdem machte Melanies Interesse an dem Film es Laura leichter, sie zu überwachen und wachzuhalten. Im Augenblick deutete jedenfalls nichts darauf hin, daß sie einschlafen oder in einen tiefen katatonischen Zustand versinken würde.
Dan fuhr kreuz und quer durch Westwood. An jedem Halteschild und an jeder roten Ampel sprane er aus dem Wagen und suchte hektisch einen kleinen Teil der Limousine nach der Wanze ab, die irgendwo angebracht sein mußte-Er hätte natürlich
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