Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Gespräch ein passant immer wieder, als quasi vergiftetes Kompliment der Spruch begegnet: »Sie können aber gut Deutsch«, bei dem muss man sich nicht wundern, wenn er sein Heil in der eigenen Clique sucht und einen Hass auf die deutsche Umgebung entwickelt.
Von vielen Türken wird es deshalb als besonders perfide empfunden, dass ihnen jetzt ausgerechnet Vertreter desjenigen politischen Lagers, das jahrzehntelang Integration verhindert hat, vorwerfen, sie seien integrationsunwillig. Natürlich hat sich nach 40 Jahren und mittlerweile 3 Millionen Einwanderern und ihren Kindern und Kindeskindern mittlerweile eine eigene Community entwickelt, die auch deshalb teilweise unter sich bleibt, weil sie immer noch das Gefühl hat, die Deutschen wollen sie nicht mitspielen lassen. Natürlich gibt es in dieser ethnisch abgeschotteten Gemeinschaft ein stärkeres Festhalten an traditionellen Moralvorstellungen, als dies in einer wirklich offenen, multikulturellen Gesellschaft der Fall wäre. Und natürlich wird über häusliche Gewalt, Zwangsehen und Ehrenmorde nicht offen selbstkritisch diskutiert, weil diese Community das Gefühl hat, die deutsche Gesellschaft suche nur nach Gründen, die ihre jahrzehntelange Ignoranz und Ablehnung im Nachhinein noch rechtfertigen.
Deshalb hat die deutsche Integrationsdebatte sogar zu einem besonders absurden Ergebnis geführt. Gerade diejenigen Türken, die sich am wenigsten in ihre Community zurückziehen, die es trotz aller Schwierigkeiten geschafft haben, Abitur zu machen und zu studieren, werden dafür nicht etwa in der deutschen Gesellschaft belohnt, sondern sie werden permanent mit Diskussionen über Ehrenmorde, häusliche Gewalt und islamischen Terrorismus konfrontiert und in ethnische Gruppenhaftung genommen. Die Folge davon ist, dass sie das Weite suchen. Noch nie gab es in Istanbul so viel gut ausgebildete Deutschtürken wie in den letzten Jahren. Deutsche mit türkischem Hintergrund, die nach Istanbul geflüchtet sind, weil sie sich diese Debatten nicht länger antun wollen und weil sie in Deutschland bei der Jobsuche immer noch diskriminiert werden. So schaffen es die Deutschen tatsächlich, die gut ausgebildeten Einwanderer wieder zu vergraulen, obwohl sich bereits ein Facharbeitermangel abzeichnet. Glücklicherweise gibt es aber auch einige grundsätzlich positive Entwicklungen. Auch wenn es bei der Mehrheit der Bevölkerung oft noch nicht angekommen ist, haben doch die Politiker mittlerweile realisiert, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist und wohl auch bleiben wird. Die von vielen Migranten als überkritisch empfundene Integrationsdebatte ist eben auch dem Umstand geschuldet, dass die jahrzehntelange Ignoranz nun einer Aufmerksamkeit gewichen ist, die mit deutscher Gründlichkeit das Leben der Türken erforscht. Auch administrativ wird nun durchgegriffen. Wollte man jahrelang Migranten ihrem Herkunftsland nicht entfremden, gilt nun: Jeder Einwanderer muss Deutsch lernen. Da die Bundesregierung vorschreibt, dass Familienzusammenführung nur dann stattfinden kann, wenn der ausländische Ehepartner noch vor seiner Einreise nach Deutschland im Herkunftsland Deutsch gelernt hat, wird zumindest in der Türkei gemutmaßt, dass es sich dabei eigentlich nicht um eine Integrations-, sondern um eine Abschreckungsmaßnahme handelt.
Doch auch wenn es langsam geht, letztlich wird die Macht des Faktischen sich durchsetzen. Die Einwanderung von Millionen Türken hat stattgefunden, und immer mehr Nachkommen der ersten Einwanderergeneration fordern ihr Recht. So findet man auch zunehmend Einwanderer beziehungsweise Deutsche mit Migrationshintergrund in wichtigen Positionen, in Arbeitsleben und Gesellschaft gleichermaßen. Die Mehrheit der Deutschen beginnt, das normal zu finden.
Dauerbrenner der türkischen Politik
Es sind vor allem drei Themen, die die türkische Gesellschaft und die Politik seit nunmehr 20 Jahren bestimmen. Das Kopftuch, die Kurdenfrage und die Debatte um die Zugehörigkeit des Landes zu Europa. Alle drei Themenkomplexe, egal in welcher Variation und Zusammensetzung sie diskutiert werden, berühren die Identität des Landes. Beim Kopftuch geht es symbolisch darum, wie säkular beziehungsweise islamisch die türkische Gesellschaft ist. Die Kurdenfrage ist Ausdruck für den Konflikt um eine multiethnische oder ethnisch hierarchische Gesellschaft, und in der Frage der Zugehörigkeit zur EU verdichtet sich nun die seit dem 18 .Jahrhundert immer wieder gestellte
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