Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
die gewählte Regierung mit Panzern aus dem Amt zu vertreiben, solle nun die Justiz diese Aufgaben übernehmen. Ihre Gegner, vornehmlich innerhalb der CHP , sahen in einem Verbot dagegen die letzte Chance, die säkulare Republik vor dem drohenden Gottesstaat zu retten. Einer ihrer wichtigsten Ideologen, Onur Öymen, wagte gar einen Vergleich mit dem faschistischen Deutschland und entgegnete den Leuten, die in dem Verbot ein undemokratisches Vorgehen sahen, Hitler sei ja schließlich auch durch Wahlen an die Macht gekommen. Der größte Teil der Bevölkerung, auch solche, die der AKP ablehnend gegenüber stehen, kritisierte dagegen das Vorgehen der Justiz. Das werfe die Demokratie in der Türkei generell zurück und löse im Übrigen auch keines der Probleme, da die AKP sich im Falle eines Verbots unter neuem Namen wieder neu gründen würde. Die Auseinandersetzung um Laizismus, Religion und die damit verbundenen unterschiedlichen Lebensstile müsse im Parlament geführt und an der Wahlurne entschieden werden. Dies war auch die Position der EU . Im Falle eines Verbots der AKP drohte Brüssel damit, die Beitrittsgespräche auf Eis zu legen.
Schließlich fällte das Verfassungsgericht Ende Juli 2008 ein salomonisches Urteil. Zehn der elf Verfassungsrichter befanden die AKP zwar durchaus für schuldig, gegen das Laizismusgebot der Verfassung zu verstoßen, allerdings nicht so massiv, dass ein Verbot gerechtfertigt wäre. Die Partei wurde verwarnt, der Verbotsantrag aber knapp mit einer Stimme Mehrheit abgelehnt. Gelbe Karte für Ministerpräsident Erdogan, kommentierten die meisten Zeitungen.
Mit dem Urteil des Verfassungsgerichts ist der Dauerkonflikt um die Identität des Landes natürlich nicht gelöst. Er ist nunmehr zurückgegeben in die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen den Menschen im Alltag. Die Debatte wann und wo das Kopftuch getragen werden darf, wird zukünftig in konkreten Situationen geklärt werden müssen. Dasselbe gilt für die Versuche islamistisch kontrollierter Stadtverwaltungen, den Anderen ihren Lebensstil aufzuzwingen, indem sie Alkohol verbieten und öffentliche Räume für Männer und Frauen trennen wollen. Diese Auseinandersetzung wird die kommenden Jahrzehnte weiter bestimmen, doch was die Türkei zu einem Modellfall machen könnte, ist der Umstand, dass dieser Konflikt zukünftig demokratisch und im zivilgesellschaftlichen Rahmen ausgetragen wird.
Die Versuche, den politischen Islam, auch in seiner moderaten AKP -Variante, autoritär durch militärischen Druck oder über die mehrheitlich nach wie vor von den alten Eliten kontrollierte Justiz zu lösen, dürften mit dem Urteil des Verfassungsgerichts auf absehbare Zeit vorbei sein. Um die stupende Konfrontation zwischen der AKP auf der einen und den nationalistischen Kemalisten auf der anderen Seite auch politisch aufzulösen, fehlt aber eben immer noch eine moderne, etwa sozialdemokratische Partei, die den konservativen Lagern ein modernes, am Individuum orientiertes Menschenbild entgegensetzt. Nur eine solche Partei, auf die viele Menschen in der Türkei warten, wäre letztlich in der Lage, einer religiös motivierten Politik die Alternative einer modernen demokratischen Gesellschaft entgegen zu stellen.
Die Kurden
Schlimmer noch als in der Kopftuchfrage wirkt sich das Fehlen einer linken Partei im Konflikt mit der kurdischen Minderheit aus. Es gab bis zur Wahl 2007 im türkischen Parlament keine politische Kraft, die für das Recht der Kurden auf eine eigene Kultur Verständnis hat. Im Gegenteil, jede Regung kurdischen Selbstverständnisses wurde jahrzehntelang fast schon im Reflex als Angriff auf die Einheit der Nation verstanden und entsprechend brutal geahndet. Hinzu kommt, dass nach offizieller Doktrin zwar alle Einwohner des Landes sich glücklich schätzen können, Türken zu sein, doch im Alltag werden Kurden sehr wohl als Kurden identifiziert und als Menschen zweiter Klasse behandelt. Was in Deutschland der Türke, ist in der Türkei der Kurde: Er ist arm, hat, wenn überhaupt, die schlechtesten Jobs und genießt das niedrigste Sozialprestige. Keine gutbürgerliche Istanbuler Familie würde ihre Tochter mit einem Kurden verheiraten.
Es war deshalb kein Wunder, dass Mitte der 80 er Jahre wieder eine kurdische Organisation zu den Waffen griff, um für einen eigenen Staat zu kämpfen. Dieses Mal nicht mehr wie in der Anfangszeit der Republik im Namen des Islam, sondern im Namen von Karl Marx. Die PKK , übersetzt
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