Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
zu einer rückwärtsgewandten, sich immer nationalistischer gebärdenden Führerpartei, die glaubt, den Kemalismus durch einen Atatürk-Führerkult retten zu können.
Deshalb fehlt im türkischen Parlament eine linke oder auch nur linksliberale Opposition, und die parlamentarische Auseinandersetzung spielt sich lediglich zwischen der konservativ-islamischen AKP , der kemalistisch-nationalistischen CHP und der rechtsradikalen MHP ab. Das Fehlen einer demokratischen Linken vom Zuschnitt einer Sozialdemokratie deutscher oder britischer Prägung wirkt sich bei allen drei entscheidenden Fragen verheerend aus. In der Kopftuchfrage gibt es im Parlament keine Partei, die den islamischen Wertvorstellungen der AKP ein modernes, aufgeklärtes Gesellschaftsbild entgegensetzt, in dem sich die liberale und bürgerliche urbane Schicht des Landes wiederfinden könnte. Statt über individuelle Selbstbestimmung, Bildung und Zukunftsvisionen zu diskutieren, setzen die säkularen Nationalisten ihr autoritäres Weltbild aus dem letzten Jahrhundert gegen die Forderungen der Islamisten.
Für die autoritären Kemalisten innerhalb der CHP , des Militärs und weiten Teilen der Justiz, ist die AKP die personifizierte Konterrevolution, die ihnen ihre Macht im Staate streitig macht und deshalb mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Bereits 2004 diskutierten Teile des Generalstabes, wie später enthüllt wurde, ernsthaft über einen Putsch gegen die AKP -Regierung, wurden aber durch den damaligen Generalstabschef Hilmi Özkök gestoppt. Der Konflikt eskalierte, als die AKP im Frühjahr 2007 auch nach dem Amt des Staatspräsidenten griff. Der Staatspräsident gilt in der Türkei praktisch als Nachfolger Atatürks, das Amt soll, unabhängig von der Parteipolitik, die Kontinuität der säkularen, kemalistischen Republik repräsentieren. Für die alte Elite war deshalb ein Präsident aus dem anti-kemalistischen Lager, dessen Frau auch noch ein Kopftuch trägt und damit allein schon die Tradition der Republik verrät, noch viel undenkbarer als ein islamisch grundierter Regierungschef. Als die Amtszeit des Kemalisten Ahmet Necdet Sezer, dem vormaligen Chef des Verfassungsgerichts, im April 2007 zu Ende ging, drohte die Armeespitze mit ernsten Konsequenzen, falls die AKP weiterhin anstreben sollte, einen Mann aus ihren Reihen mit ihrer parlamentarischen Mehrheit zum Präsidenten zu wählen. Der Putschdrohung folgte eine juristische Schmierenkomödie, in der das Verfassungsgericht auf Antrag der CHP festlegte, dass für die Wahl des Präsidenten Zweidrittel der Abgeordneten anwesend sein müssten, ein Quorum, dass noch bei keiner anderen Präsidentenwahl zuvor eine Rolle gespielt hatte und durch den Auszug der Kemalisten vor jeder entsprechenden Abstimmung torpediert wurde. Die AKP wehrte diesen Angriff erfolgreich ab, indem sie das Parlament auflöste und bei den anschließenden Neuwahlen im Juli 2007 , nicht zuletzt weil sie als Opfer der alten Elite dastand, einen grandiosen Erfolg errang. Die Wahl ihres Zweiten Mannes, von Außenminister Abdullah Gül, zum Präsidenten konnte dann anschließend niemand mehr verhindern.
Mit ihrem Wahlerfolg im Rücken fühlte sich die AKP nunmehr stark genug, das kemalistische Establishment erneut herauszufordern. Gemeinsam mit der rechtsradikalen MHP setzte sie im Parlament eine Verfassungsänderung durch, mit der das geltende Kopftuchverbot an den Universitäten und im öffentlichen Dienst aufgehoben werden soll. Prompte klagte die Opposition und brachte die Änderung vor das Verfassungsgericht, welches die neuen Artikel denn auch wieder kassierte. Doch damit nicht genug, holte nun der Generalstaatsanwalt, offenbar in Absprache mit dem Militär und anderen wichtigen Instanzen, zum großen Gegenschlag gegen die AKP aus. Im März 2008 stellte er beim dafür zuständigen Verfassungsgericht den Antrag, die AKP als Partei zu verbieten, weil sie zu einem »Kristallisationspunkt anti-laizistischer Aktivitäten« geworden sei. Das war selbst für türkische Verhältnisse ein Novum. Zwar gehören Parteiverbote zum häufig genutzten Instrument des Staates, um vor allem kurdische oder auch islamistische Aktivitäten einzuschränken und ihnen eine parlamentarische Basis zu verwehren, doch einen Verbotsantrag gegen eine Regierungspartei hatte es noch nie gegeben.
Vier Monate lang wurde erbittert um das Verbot gerungen. Für die Anhänger der AKP war der Antrag nichts anderes als ein Putschversuch mit anderen Mitteln. Statt
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